Das 2. Gesicht
nicht gut geht, ich habe es gespürt. Du warst so verändert. Komm her, ist ja gut, jetzt bin ich ja da.“
Sandra redete mit mir wie mit einer Siebenjährigen und es tat unendlich gut. Langsam wurde es dunkel um uns herum, die Menschen kamen mit ihren Einkaufswagen aus dem Supermarkt geschlurft. Viele ließen sich die Einkäufe in ihre Wagen packen, die Mehrheit der Menschen hier war alt und schon ein wenig behindert. In der Dunkelheit des Autos erzählte ich Sandra alles, die Wahrheit oder das, was ich für die Wahrheit hielt. Sie stellte nur kurze Zwischenfragen, ließ mich aber ansonsten reden. Sandra war grundsätzlich Männern gegenüber viel misstrauischer als ich. Kein Wunder, wenn man einen Vater hatte, der sich einfach aus der Verantwortung gestohlen hatte. Das war allerdings auch Sandras Problem in ihren eigenen Beziehungen, ohne Vertrauen kann man schlecht eine gute Beziehung aufbauen. Immer wenn es ernst wurde, nahm Sandra die Beine in die Hand und fand einen Grund, die Beziehung zu beenden. So hatte sie schon einige Herzen gebrochen, vor allem immer wieder ihr eigenes.
„Ich habe Hunger“, sagte Sandra irgendwann.
„Oh Gott, Liebes, du musst todmüde und halb verhungert sein. Entschuldige, wir fahren sofort nach Hause, damit du dich ein wenig erfrischen kannst und dann haue ich dir den leckersten Hummer südlich von Maine auf den Grill.“
„Ist George zu Hause?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht“, gab ich zu.
„Ich würde es vorziehen, wenn wir irgendwo gemütlich zu Abend essen würden, bevor wir zu dir nach Hause fahren. Irgendetwas sagt mir, dass wir erst mal in Ruhe miteinander reden sollten, bevor du mich mit deinem Haus und deinem Mann konfrontierst.“
Ich nickte stumm, rangierte den SUV aus der Parklücke und fuhr zu Mel’s Diner. So ungefähr hatten wir uns als Kinder ein amerikanisches Restaurant vorgestellt und hier gab es für meinen Geschmack die leckersten Sandwiches in Fort Myers.
Natürlich habe ich Sandra gefragt, wie es ihr geht. Wie es mit ihrem neuen Freund Mike geht. Aber sie wollte offensichtlich nicht über sich reden. Wahrscheinlich hatte ich sie mit meiner Bedürftigkeit geradezu erschlagen.
„Lass uns das noch mal rekapitulieren“, sagte sie bei einem Melted Tuna Sandwich, mit dem man locker eine vierköpfige Familie satt gekriegt hätte. „Wenn ich es richtig verstanden habe, dann lebst du sozusagen allein in diesem Gespensterhaus, abgesehen von einer Haushälterin, die kein Englisch spricht, und ein paar Lieferanten, die regelmäßig kommen. Dein Ehemann kommt ebenfalls nur zu Besuch, bleibt nie über Nacht und schläft nur mit dir, wenn du Scheiße gebaut hast.“
Entsetzt schaute ich Sandra an. So hatte ich es noch gar nicht gesehen. Aber sie hatte Recht. Abgesehen von den wundervollen Liebesnächten während unserer Flitterwochen hatte er nur einmal mit mir geschlafen, nämlich als er sauer war. Typisch Sandra, sie brachte die Dinge auf den Punkt.
„Und er reagiert geradezu hysterisch auf jedes Herausstellen von Weiblichkeit. Hast du deshalb so abgenommen, vielleicht unbewusst, damit er nicht durch den Anblick eines Busens gestört werden könnte?“
„Großer Gott, Sandra, du kommst vielleicht auf Ideen!“ Ich knabberte lustlos an einem Pommes frites herum und dachte nach. Hatte Sandra, wie eigentlich meistens, Recht? Hatte ich instinktiv erfasst, dass mein Mann nicht auf Frauen stand, die wie Frauen aussahen und sich wie Frauen anzogen? Ich schüttelte den Kopf.
„Das macht keinen Sinn, Sandra“, sagte ich. „Er ist der zärtlichste Liebhaber, den man sich vorstellen kann, wenn wir unterwegs sind. Es muss irgendetwas mit dem Haus zu tun haben. Ich verstehe es nicht, aber ich bin sicher, es ist das Haus.“
„Und deshalb läufst du rum wie Mogli? Bist du sicher, dass dein liebender Gatte nicht latent schwul ist?“
Sie hatte es ausgesprochen. Sandra hatte etwas ausgesprochen, was ich all die Monate nicht mal gewagt hatte, zu denken. Betreten schaute ich auf mein Reuben Sandwich, das ich gedankenlos total zerfleddert hatte. Ich blickte hoch und sah in ihren braunen Augen etwas, was ich nicht wollte: Mitleid. Meine Freundin Sandra hatte Mitleid mit mir. Nein, schrie es in mir. Nein, ich bin eine glückliche Frau, ich bin glücklich verheiratet und ich habe den besten Ehemann der Welt. Selbstverständlich sagte ich es nicht laut, Sandra hätte mich ausgelacht.
Als wir eine Stunde später in dieses Haus kamen, wartete George bereits auf
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