Das 2. Gesicht
fahre“, sagte ich. „Außerdem schaltet er garantiert sein Handy aus, wenn er im Strandhaus ist, damit ihn niemand stört beim Schreiben.“
„Ausschalten reicht nicht, man muss schon den Akku rausnehmen. Aber auch dann kann man ein Handy finden. Wird nur schwieriger.“
Ich schüttelte den Kopf. „Sandra, so was mache ich nicht.“
„Ich aber“, sagte Sandra. „Her mit der Nummer.“
„Nein!“
„Okay“, sagte sie, „selbst Schuld.“ Sie ging in die Küche, wo über einem Küchenschrank alle Notfall-Nummern hingen, und schrieb die Nummer von George ab. Mit der Nummer und ihrem Tablet bewaffnet ließ sie sich in die Couch fallen. „Nun wollen wir mal gucken.“
Sie versuchte es über mehrere Dienste, die Nummer war absolut nicht zu finden.
„Scheiße“, fluchte sie. „Aber es muss doch herauszukriegen sein, wo die Hütte ist. Welcher Makler hat ihm eigentlich dieses Neuschwanstein für Arme hier verkauft?“
„Ich habe überhaupt keine Ahnung“, sagte ich. „Es gibt auch keine Unterlagen hier im Haus, irgendwie ist das hier alles klinisch, es gibt keine Papiere, keine persönlichen Sachen, nichts.“
„Hhm, und die Nachbarn? Die kriegen doch so was mit. Ich meine, hier stehen doch vor jedem dritten Haus so Schilder von Maklern. Hast du mal einen Nachbarn gefragt?“
„Ich habe bis heute nicht mal einen Nachbarn gesehen!“, sagte ich.
„Das glaube ich jetzt nicht, du bist nicht mit einem Selbstgebackenem nach nebenan, hast geklingelt und gesagt: Hi, ich bin Julia, ich wohne jetzt nebenan? Sag’ mal, du bist doch mit den gleichen amerikanischen Spielfilmen aufgewachsen wie ich, das macht man hier so!“
„Das macht man so, wenn man in einer netten Mittelschichtsiedlung lebt. Aber die Villen hier sind so abgeschottet, dass du höchstens das mexikanische Hausmädchen an die Klingel kriegst, die dir sagt: Ich nix verstehen. Ich habe es einmal versucht, danke, nicht noch mal.“
„Was ist denn mit der Security? Du hast mir erzählt, dass die Security oft mehrmals in der Woche angetanzt ist, vor allem am Anfang. Da macht man sich doch Freunde!“
„Ich war so sauer, wenn die kamen, da habe ich nicht daran gedacht, mir Freunde zu machen“, musste ich zugeben.
„Na, dann wissen wir ja, was wir jetzt zu tun haben“, sagte Sandra. „Erstmal die Nachbarn und ich mache heute Nacht irgendeinen Blödsinn, so dass die Security kommen muss. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht rauskriegen würden, wo Monsieur Osterman zu nächtigen pflegt.“
Mädelsurlaub
Wir verbrachten den halben Tag im exklusivsten Day Spa von Fort Myers. Sandra ließ sich Gelnägel machen, die sie ebenso wie ihre Fußnägel knallrot lackieren ließ, ein toller Kontrast zu ihrem Teint, der inzwischen fast ein schimmerndes Mahagoni angenommen hatte. Das Volumen ihrer sowieso schon prächtigen Löwenmähne hatte irgendein sündhaft teurer Puder einfach mal verdoppelt. Nach einem leichten Lunch machten wir die Miromar Outlets unsicher, sprich Sandra verfiel in einen Kaufrausch. Es gab kaum einen Designer, dessen Klamotten ihr nicht standen. Sie sah einfach hinreißend sexy in allem aus, was sie anprobierte. Mit Bergen von Tüten schleppten wir uns zum Auto und fuhren nach Neuschwanstein, wie Sandra mein neues Zuhause nannte.
Und dann machten wir Modenschau. Ich war begeistert, konnte mich gar nicht sattsehen an meiner Freundin, die aussah, als sei sie direkt dem neuesten Hollywood-Film entsprungen. Am Abend gingen wir groß essen in Cape Coral. Es gab wohl niemanden im Restaurant „Brew Babies“, der sich nicht nach ihr umgedreht hatte. Sie war einfach eine Sensation. Dieser Frau in ihrem knallroten Minikleid mit dem tiefen Rückenausschnitt musste man einfach hinterhergucken. Ich war so stolz auf meine Freundin. Neben ihr sah ich aus wie eine brave Internatsschülerin. Als wir nach Hause fuhren, sahen wir, dass ein Ehepaar, das fast mit uns zusammen das Restaurant verlassen hatte, ebenfalls in unsere Straße einbog. Sandra schlüpfte auf unserer Auffahrt aus dem Wagen und sagte: „Warte mal, ich mache mich mal mit deinen Nachbarn bekannt.“
Typisch Sandra, ich hätte mir lieber in den Finger geschnitten. Sandra schritt auf ihren Zehn-Zentimeter-Heels mit dem erhobenen Haupt einer Königin auf das Haus uns gegenüber zu, wo das kanarienvogelgelbe Audi-Cabrio auf die Auffahrt gefahren war. Ich sah im Rückspiegel, wie sie sich zu dem Fahrer hinabbeugte. Das Paar stieg lächelnd aus, die Frau kam um das Auto herum
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