Das 2. Gesicht
Gefühl, dass vielleicht doch noch alles wieder gut werden könnte.
Als ich aus dem Bad kam, war die zärtliche Stimmung zwischen uns einer deutlich spürbaren Spannung gewichen. Jetzt nicht kneifen, dachte ich. Ich sah, wie er sich an dem elektrischen System zu schaffen machte. Aber auch er schien damit nicht weiterzukommen, denn nachdem er daran herumgefummelt hatte, rief er den Wachschutz an und beschwerte sich.
„Die kommen noch heute und bringen es in Ordnung“, sagte er.
„Oh nein, wir wollten doch essen gehen“, sagte ich.
„Ein andermal, Engelchen, ein andermal.“
Eine Kindheit in Vermont
Das Einzige, was mich davon abhielt, komplett zu vereinsamen, waren meine Telefonate mit Sandra. Jeden Nachmittag skypten wir. Nicht, dass ich ganz ehrlich zu Sandra gewesen wäre. Ich konnte noch nicht so richtig in Worte fassen, was eigentlich los war mit meiner Ehe. Irgendetwas hielt mich davon ab, mich bei Sandra mal so richtig auszuweinen. Als sie mir vorschlug, mich in ihrem nächsten Urlaub zu besuchen, freute ich mich wie ein kleines Kind und küsste vor Freude ihr Gesicht auf meinem Laptop. Als George das nächste Mal nach Hause kam, fragte ich ihn, ob ich Sandra zu uns einladen dürfte.
„Was für eine Frage, Honey, natürlich. Es wird Zeit, dass du endlich ein bisschen Gesellschaft kriegst. Du drehst mir hier ja schon fast durch“, sagte mein Ehemann zu meinem größten Erstaunen. Ich hatte ihm natürlich von meiner besten Freundin vorgeschwärmt.
„Ich beneide dich um eine gute Freundin“, hatte er gesagt.
„Hast du denn gar keine Freunde?“, fragte ich ihn.
„Doch, schon, natürlich. Aber nicht hier, nicht in Florida“, war seine Antwort. George war in Vermont aufgewachsen, in einem Ort namens Burlington, auch keine schlechte Gegend, wenn man den Fotos trauen konnte. „Meine alten Freunde leben entweder in Burlington oder sind einmal komplett über das ganze Land verstreut“, sagte George. „Das ist so in den Vereinigten Staaten.“
Ich schluckte runter, dass es auch in den Vereinigten Staaten so war, dass man Freunde dort hatte, wo man wohnte. Im Zweifelsfalle machte man sich welche. Dann dachte ich aber daran, wie schwer es war, hier Kontakt zu anderen zu bekommen. Wo sollte ich neue Freunde finden? Im Country Club, in dem ich nicht Mitglied war, in der Kirche, in die ich nicht ging? Ich musste mich dringend um irgendein Charity-Projekt bewerben. Nur wo, das war mir noch ein Rätsel.
„Was ist eigentlich mit J.R.?“, fragte ich.
George schwieg und schaute angelegentlich aus dem Fenster.
„Er ist kein Freund, er ist mein Manager“, sagte er nach einer Weile nachdenklich.
„Wohnt er auch hier in Florida?“, fragte ich ihn.
„Ja“. George wollte dieses Thema offensichtlich nicht ausweiten.
Es war gar nicht so einfach, hinter seine persönlichen Beziehungen zu kommen. Man denkt immer, wenn man die Biografie eines Menschen gelesen hat, dass man dann alles von ihm weiß. Aber so war es nicht. Ich nahm mir vor, seine Biografie noch mal hervorzuholen und konkrete Fragen zu stellen.
„Besuchst du eigentlich nie deine Familie und deine alten Freunde in Burlington?“, stocherte ich ein wenig im Dunklen.
„Selten“, sagte George. „Wenn ich in der Nähe bin, auf Lesereise, dann ja. Aber extra hinfahren, nein danke, so nett war meine sogenannte Familie dann auch nicht. Die erwarten von mir lebenslange Dankbarkeit. Ich kann damit schlecht umgehen.“
Ich hatte mich schon gefragt, warum er mich seiner Familie noch nicht vorgestellt hatte. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass meine Eltern noch lebten und ihn kennengelernt hätten. Meine Mutter hätte George gemocht, da war ich mir sicher. Sie wäre vor Stolz geplatzt auf ihre Tochter, die den berühmten amerikanischen Thriller-Autor geheiratet hatte. Ich kuschelte mich in Georges Arm und sagte es ihm.
„Sei froh, solche Eltern gehabt zu haben. Solche, an die du gute Erinnerungen hast, die in deinem Herzen weiterleben.“ Er strich mir über die Haare.
„Hast du denn gar keine guten Erinnerungen an deine Eltern, an deine Jugend in Burlington?“, fragte ich ihn.
„Wenn man von dem Tag absieht, an dem mir mein Adoptivvater einen Computer geschenkt hat, wenige. Ich wurde zu allem gezwungen, wozu ich absolut keine Lust hatte: Baseball, Football, Angeln, Jagen, Grillen, eben das gesamte Jungsding. Ich hasse Sport, Sport ist Mord. Noch mehr hasste ich es, stundenlang auf diesen blöden Köder zu schielen und hinterher auch
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