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Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nika Lubitsch
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zuletzt die Stunden. Endlich, endlich landete mit vierstündiger Verspätung die Air-Berlin-Maschine in Fort Myers. Ich war aufgeregt wie ein kleines Kind am Geburtstag und konnte es kaum erwarten, meiner besten Freundin meine neue Heimat zu zeigen.
    Sandra und ich waren bereits seit der ersten Klasse befreundet. Am ersten Tag unserer Schulzeit wurden wir nebeneinander gesetzt. Das ist jetzt über zwanzig Jahre her, und ich habe außer meiner Hochzeit alle wichtigen Tage meines Lebens zumindest zum Teil mit Sandra verbracht. Nie, nie zuvor hatte ich ein Geheimnis vor ihr. Es fiel mir ungeheuer schwer, Sandra nicht zu erzählen, wie unglücklich ich meist in meiner Ehe war. Aber dass ich mich einsam fühlte, weil mein Mann oft weg war, das konnte ich ihr natürlich sagen.
    Schon von Weitem sah ich ihren dunkelbraunen Pferdeschwanz wippen. Sie sah eigentlich nicht anders aus als damals, als wir zusammen unser Abi gefeiert hatten. Sandra war immer die Mutigere von uns beiden gewesen, die, die mit dem Mund vorneweg war, Sandra war nie etwas peinlich. Ich habe sie immer für ihre Sorglosigkeit bewundert. Sandra hat sich nie darum gekümmert, was andere von ihr dachten, sie sagte immer das, was ihr gerade in den Sinn kam. Sandra war Sandra, und was Sandra tat, war gut. So sah sie das und ich hätte sonst was darum gegeben, um auch nur ein kleines Stück von ihrer Selbstsicherheit zu bekommen. Während ich mich immer mit Selbstzweifeln gequält hatte, hatte Sandra immer in sich geruht. Sie hat ihre zwei kleinen Geschwister praktisch allein groß gezogen. Ihre Mutter hatte zwei Jobs, um die Familie durchzubringen, nachdem ihr Vater mit seiner Firma pleite gegangen war und seine Familie mit Schulden und Bürgschaften sitzen gelassen hatte. Er wollte „im Süden neu anfangen“. Dass zu einem neuen Anfang auch eine neue Frau gehörte, hatte er seiner Familie allerdings am Anfang verschwiegen. Sandras Kindheit war also nicht ganz unbelastet gewesen. Vielleicht war es das, was bei Sandra so ein starkes Verantwortungsgefühl hervorgerufen hatte. Sie fühlte sich für alles und jeden verantwortlich, und so kam ich bereits in unserer Schulzeit in den Genuss einer Freundin, die immer für mich da war. So richtig bewusst ist mir das erst hier in Florida geworden, wie sehr ich mich all die Jahre auf meine beste Freundin verlassen hatte.
    Sandra fiel mir um den Hals.
    „Ich freu mich so, ich freu mich so!“, säuselte sie mir ins Ohr. Auf dem Weg ins Parkhaus schaute sie mich kritisch an.
    „Sag mal, hast du abgenommen?“, fragte sie mich. Ich schaute sie erstaunt an, ich hatte wirklich keine Ahnung. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein Problem mit meiner Figur gehabt, deshalb kannte ich auch so etwas wie eine Waage nicht.
    „Keine Ahnung, wieso? Sehe ich so dünn aus?“, fragte ich sie.
    „Du siehst aus wie Mogli!“, sagte sie.
    Ich schaute an mir herunter. Ich hatte noch nie viel Busen gehabt, aber Sandra hatte wie immer Recht, mein Blick konnte ungehindert Richtung Schuhe wandern. Der Satz wird mir wohl für den Rest meines Lebens im Gedächtnis bleiben. Nein, es war keine Beleidigung, wir liebten beide den Jungen aus Rudyard Kiplings Dschungelbuch.
    Langsam fuhren wir in die untergehende Sonne nach Hause. Oder zu dem, was ich jetzt Zuhause nennen durfte, musste, konnte. Auf dem Weg dahin zeigte ich Sandra die Sehenswürdigkeiten der Gegend:
    „In dieser Shopping Mall gibt es einen hervorragenden Küchenladen.“ „Schau mal, da ist Walgreens, das ist hier unsere Apotheke. Du brauchst unbedingt eine Walgreens-Karte.“ „Hier kann man ganz gut Sushi essen.“
    Sandra sagte gar nichts. Sie saß auf dem Beifahrersitz des BMW, schaute hinaus und folgte fast willenlos meinen Belanglosigkeiten. Irgendwann sagte sie: „Halt mal an!“
    „Was ist los?“, fragte ich.
    „Du sollst mal anhalten, dort, da drüben auf dem Parkplatz von dem Einkaufscenter.“
    Ich fuhr folgsam auf einen Parkplatz von Publix.
    „Was ist denn los?“, fragte ich.
    „Das genau wollte ich dich gerade fragen, du redest seit dem Flughafen ohne Punkt und Komma. Also, was ist los?“
    Ich stellte den Motor ab und dann war es vorbei. Mir schossen die Tränen aus den Augen. Ich umarmte Sandra.
    „Ich bin so froh, dass du da bist. Ich, ich …“ Der Rest des Satzes ging in meinen Tränen unter, vielleicht habe ich ihn auch gar nicht ausgesprochen.
    „Scheiße“, sagte Sandra und zog ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche. „Ich wusste, dass es dir

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