Das 2. Gesicht
George abhängig gewesen. Oder hatte er bereits so gut verdient und so clever investiert, dass es ihm egal war? Julia, sagte ich mir, du versuchst, einen total Durchgeknallten zu verstehen. Lass es. Doch dann meldete sich eine andere Stimme in mir, die mir sagte: Wenn du noch eine Weile am Leben bleiben willst, dann musst du dafür sorgen, dass er vor dir mit seinen Taten angibt. Gib ihm das Gefühl, dass du ihn verstehst. Für ihn haben alle seine Taten irgendeine innere Logik. Also tu so, als ob du dieser Logik folgen kannst. Das ist deine einzige Rettung. Und wieder kam mir George zu Hilfe. Es war eine Stelle aus seinem Roman „Paradise Lost – Der Unsichtbare“:
Wie hatte er sich gewünscht, eine zu finden, die ihn verstand. Dabei war er sich sicher gewesen, dass es für ihn keine Eva geben würde. Keine, mit der er die verbotenen Früchte gemeinsam kosten konnte, keine Seelenverwandte, mit der er die Grenzen überschreiten konnte. Und plötzlich, als er es am allerwenigsten erwartet hatte, war sie da. Die Frau, die ihn, den Unsichtbaren, erkannte.
Ich musste so tun, als ob ich ihn verstehen würde. Halte ihn am Reden, Julia, sagte ich mir.
„Wo genau fahren wir hin?“, fragte ich ihn.
„Du hast vorhin so schön geraten“, sagte er.
„Edison Mall, ehrlich?“
„Fast. Ich habe dort ein hübsches kleines Geschäft.“
„Einen Dessousladen vielleicht?“
Er lachte aus vollem Halse. „Ja, auch.“
War George deshalb in diesem Geschäft gewesen? Weil es ihnen gemeinsam gehörte? Oder weil er geahnt hatte, wo Sandra sein könnte?
„Wie hat George denn darauf reagiert, als er vom Tod seiner Mutter erfahren hat?“
„George hatte mir gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil er die Chance gehabt hatte, woanders aufzuwachsen. Ich glaube, meine Geschichte hat ihn sogar ein wenig versöhnt mit seinen Adoptiveltern, sie waren einfach die bessere Variante. Dass ich unsere Mutter beseitigt habe, das musste ich ihm nicht auf die Nase binden.“
„Du scheinst ziemlich viel Geld mit ihm verdient zu haben?“, fragte ich und hoffte, er würde ein wenig angeben.
„Die Leute lesen nun mal gern schaurige Krimis, dagegen wirken ihre eigenen, ganz normalen Dramen winzig klein. Ja, seine Thriller verkaufen sich wie frisch gebackenes Brot. Überall auf der Welt, er ist in die abartigsten Sprachen übersetzt worden.“
„Sogar in Deutsch.“
„Sogar in Deutsch. Aber ohne mich wäre er nie so weit gekommen. George hatte keine Ahnung, wie man Geld macht. Er wollte nur in Ruhe schreiben. Er war ein Eigenbrötler, ihm war Geld im Grunde egal, er wollte gute Romane schreiben. Gute Romane, ich bitte dich.“ J.R. lachte.
„Und du hast dann seine Finanzen gemanagt?“, bohrte ich nach.
„Ich habe viel Geld für ihn verdient und viel Geld mit ihm. Vieles davon liegt auf Offshore-Konten. Ich kann also morgen auf Nimmerwiedersehen verschwinden und gut von meinem Geld leben.“
„Ich dachte, es sei nicht so einfach, Geld aus den USA rauszukriegen“, sagte ich.
„Kein Problem, wenn man weiß, wie. Man muss die richtigen Kontakte haben, die richtigen Leute kennen.“
Ich beglückwünschte mich dafür, dass ich vorhin bei dem Polizisten nicht laut geschrien hatte. Flugzeug, Offshore-Konten, vielen lieben Dank auch.
„John“, sagte ich, „bitte erkläre mir etwas. Ich verstehe ja, dass du anderen Kindern eine solche Kindheit wie deine ersparen willst und die Huren beseitigst. Ich hasse Huren auch. Es muss eine ungeheure Befriedigung sein, zu sehen, wie diese Weiber, die andere leiden lassen, selbst leiden. Ich nehme an, dass du dir richtig Zeit nimmst, damit nicht nur du, sondern auch die Weiber etwas davon haben. Aber was ist mit den Frauen, die du zersägst? Ich verstehe noch nicht, wovor du die Welt bewahren willst, bei diesen Frauen.“
J.R. schwieg. Er schwieg sehr lange.
„John?“
„Ist das nicht klar? Ich denke, du hast ‚Everglades‘ gelesen. George hat es so schön beschrieben, wie ich es nicht besser hätte ausdrücken können.“
Und dann hatte ich die Idee. „J.R., heißt das, dass du die Frauen zerstückelst, in die du dich verliebt hast?“
J.R. schwieg immer noch.
„Du willst deinen Schmerz mit ihnen teilen. Du willst sie nicht verlieren, deshalb bewahrst du ihre Köpfe auf?“
Ich versuchte mich noch mal an die Stelle in Georges Roman „Everglades – Das ewige Licht“ zu erinnern:
Nummer zwölf. Endlich. Die Vollendung seines Werkes, der Höhepunkt seines Schaffens. Nummer
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