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Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nika Lubitsch
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angeliefert?“
    „Ich habe keine Ahnung, J.R., aber ich könnte mir vorstellen, dass es Zufahrten gibt, wo man anliefern kann.“
    „Ja, es gibt Zufahrten. Vor allem, wenn man Lagerräume und ein Geschäft gemietet hat, kein Problem. Ich kann alles anfahren und rein-oder rausbringen, so wie es beliebt. In meinem schönen, weißen Kühlwagen.“
    Bei dem Wort Kühlwagen kriegte ich wieder Gänsehaut. Wo hatte er die Köpfe versteckt? Ich war so sicher gewesen, in diesem verdammten Gefrierschrank die Köpfe zu finden, aber es waren nur Pakete mit eingeschweißten Steaks und Hühnerbeinen darin gewesen und eine Pistole oder ein Revolver, woher sollte ich den Unterschied kennen? Ich hatte so ein Ding noch nie in der Hand gehabt, bevor ich meinen Mann damit erschossen hatte.
    „Und in dem schönen, weißen Kühlwagen lagerst du also deine Trophäen.“
    „Ich bin doch nicht verrückt! Stell dir vor, ich käme in eine Kontrolle? Nein, die Köpfe sind an einem geheimen, sehr sicheren Ort.“
    Ich dachte nach. Wieder rasten meine Gedanken durch die Thriller von George, langsam kam ich mir vor wie auf einer Schnitzeljagd, nur dass das hier blutiger Ernst war.
    „Willst du es mir nicht sagen?“, fragte ich. „Warum willst du mich dumm sterben lassen?“
    „Ein kleines Geheimnis braucht der Mensch“, sagte J.R. und stand auf. Was hatte er vor? Ich sprang auf und drückte mich in die Ecke. „Psst, Julia, du brauchst nicht wegzurennen, ich kriege dich sowieso. Warum willst du dich so anstrengen, ich bringe dich zu deiner Freundin Sandra. Komm, lass uns gemeinsam ein wenig Spaß haben, wir drehen einen kleinen Film, nur du und ich und als Hauptdarstellerin Sandra.“
    Ich blieb wie angewurzelt stehen. Ich musste zu Sandra. Ihr irgendwie helfen. Mir würde irgendetwas einfallen. Müssen.
    „Okay“, sagte ich, „ich komme mit.“
    J.R. lachte wieder dieses widerliche, kleine Lachen.
    „Darauf möchte ich wetten“, sagte er. „Los, raus hier“, er schubste mich zur Tür. Gehorsam öffnete ich die Tür, nicht ohne einen Blick auf meinen Mann geworfen zu haben, der in einer riesigen Blutlache lag. Bitte, bitte, lieber Gott, betete ich, obwohl ich wirklich nicht gläubig war, bitte, lass mich danebengeschossen haben, lass George leben.
    J.R. stieß mich die Holztreppe hinunter. Er musste mich durch irgendeinen Hintereingang bringen, denn so, wie ich aussah, konnte er mich nirgendwo vorzeigen. Ich war völlig mit Blut besudelt.
    J.R. stieß mich unter das Haus. Verborgen hinter einem weißen Gitter stand sein weißer Lieferwagen. Er trug keine Aufschrift. In dem Moment spürte ich einen Stich. Und dann passierte etwas Merkwürdiges. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Es war, als ob ich gelähmt sei. Ich hörte jedes Wort, ich konnte sprechen, schreien, aber ich konnte mich nicht mehr bewegen. J.R. lehnte mich gegen den Lieferwagen, öffnete die hintere Klappe, hob mich hoch und legte mich in eine geöffnete Kiste. Es war eine von diesen schwarzen Kolli, mit denen zum Beispiel Tontechniker ihre Geräte transportieren. Gott sei Dank schloss er die Kiste nicht, ich wäre wahrscheinlich an meiner Panik erstickt.
    In dem Wagen stank es nach Benzin und nach Fisch, ich lag neben einer Angel und zwischen Plastikbehältern und Farbdosen, die einen scharfen Geruch verströmten. Ich hörte, wie J.R. die Wagentüren verschloss und sich ans Steuer setzte.
    Bald würde ich Sandra sehen, aber wie konnten wir entkommen?
    J.R. fuhr in dem typischen Stop-and-go, der auf der Insel normal war. Wie schon auf der Hinfahrt wollten Tausende von Touristen hier den Strand sehen und Vögel beobachten, und so war hier ein Verkehr wie am Samstag vor Weihnachten auf dem Kurfürstendamm in Berlin.
    Was hatte er mir gespritzt? Ich versuchte, meine Zehen zu bewegen, nichts ging mehr. Ich konnte nur meine Augen bewegen. Das Schlucken fiel mir schwer, wahrscheinlich eher vor Angst. In was für einem Desaster war ich da gelandet? Ich hatte meinen Mann erschossen, anstatt den wirklichen Serienkiller zu erwischen. Würde ich das jemals in meinem Leben wiedergutmachen können? Würde ich diesen Tag, wenn ich ihn denn überhaupt überleben würde, jemals vergessen können? Dieser wahr gewordene Albtraum, warum hatte ich nicht auf Sandra gehört? Warum war ich nicht in Berlin geblieben, in meinem neuen, vielversprechenden Job, anstatt mich in den ersten Autor zu verlieben, der mir über den Weg gelaufen war?
    Die Strecke war holperig und es tat im Rücken

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