Das 2. Gesicht
Strandhütte? Ich habe sie bei den Häusern, die auf deine Firma eingetragen worden sind, nicht gefunden.“
Jetzt lachte J.R. aus vollem Hals. „Ja, das war süß, wie du dahinter gekommen bist, was man alles im Internet finden kann. Ich habe mich köstlich amüsiert. Aber so doof sind weder dein Gatte noch ich gewesen. Natürlich haben wir noch ein paar Immobilien über Firmen auf den Bahamas und Grand Cayman erworben. Da gibt es einen Rechtsanwalt, der davon weiß, und aus die Maus.“
„Das hätte ich wissen sollen. Also, wo ist sie, diese Hütte, in die sich mein Mann zurückgezogen hat?“, fragte ich.
„Du sondierst wohl schon dein Erbe, was? Mach dir keine Illusionen, Mädelchen. Du wirst den heutigen Tag nicht überleben. Und du wirst neben deinem Mann bestattet werden, den du netterweise mit meinem Revolver erschossen hast. Im Familiengrab.“ Er lachte wiehernd.
„Und wo ist Sandra?“, fragte ich.
J.R. lachte noch immer. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt. „Das möchtest du wohl gern wissen, was, wo deine kleine Freundin abgeblieben ist, dieses Miststück, diese Fotze. Denk doch einfach mal nach. Was hat dein Mann so schön geschrieben?“
Ich ließ die Thriller meines Mannes wieder wie durch einen Scanner durch mein Gehirn jagen. Was hatte J.R. eben über Überwachungskameras gesagt: installieren oder außer Gefecht setzen? So was Ähnliches. Denk nach, Julia, ermahnte ich mich. Da war eine Passage in seinem Buch „Paradise Lost – Der Unsichtbare“. Wie war das nur?
„Paradise Lost – Der Unsichtbare“ von George Osterman
Er wurde beobachtet, Millionen Augen beobachteten ihn, sie beobachteten ihn, wenn er aufstand, wenn er auf die Toilette ging, wenn er sein Frühstücksei briet oder seine Waschmaschine füllte. Sie schauten ihm zu, wenn er das Haus verließ, wenn er in sein Auto einstieg, und an jeder Kreuzung, an der er hielt, nahmen sie auf, wie er sich den Schlaf aus den Augen rieb, den Schweiß von der Stirn wischte oder einen anderen Sender einstellte. Die Augen zählten die Drinks, die er abends an der Bar nahm, und die Mädchen, denen er hinterherschaute, sie bewachten sein Auto, wenn er im Supermarkt einkaufte, und sie beobachteten genau, welches Benzin er in seinen Tank füllte.
Bereits als Baby war er überwacht worden. Millionen Augen verfolgten ihn seitdem, Tag für Tag, Jahr für Jahr, von der Wiege bis zur Bahre. Schluss damit, hatte er sich eines Tages gesagt und beschlossen, unsichtbar zu werden. In unzähligen Stunden, die er in seiner Garage verbracht hatte, ganz hinten, da, wo die Kameras nicht hinkamen, da hatte er es entwickelt. Diesen kleinen schwarzen Kasten mit den Drähten darin, mit den Sensoren, mit der Batterie. Er hatte sich gewundert, wie einfach es war. Jawohl, er konnte unsichtbar werden. Mit diesem kleinen, schwarzen Kasten wurde er unsichtbar. Und je mehr Kameras es gab, desto unsichtbarer wurde er. Er hörte auf zu existieren. Ein Klick und die Kamera war tot. Er hatte die höchste Stufe des Seins erreicht. Er war der Unsichtbare.
„Du hast so einen kleinen, schwarzen Apparat, der dich unsichtbar macht?“, fragte ich J.R.
„Braves Mädchen, sie kennt ihren Osterman. Ja, ich bin der Unsichtbare. Was für eine geniale Idee meines Bruders. Und tatsächlich nicht ganz so einfach, wie er schreibt, aber nicht unmöglich. Und weißt du, wo man am unsichtbarsten ist? Überall da, wo ganz viele Kameras sind. In einem Einkaufszentrum. Auf Parkplätzen in Einkaufszentren. Genau da. So viele Menschen, jeder hat es eilig, niemand achtet auf den anderen. Parkplätze sind mein Jagdrevier.“
„J.R., wo ist Sandra?“, fragte ich noch mal. „Etwa in der Edison Mall?“
J.R. lachte und lachte. Ich werde nie das Geräusch dieses verrückten Lachens vergessen. Niemals. Und dann nahm ich aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung hinter dem Sofa wahr. War das Wunschdenken, halluzinierte ich oder hatte sich Georges Hand wirklich bewegt? Nicht hingucken, sagte ich mir, bloß J.R. nicht darauf aufmerksam machen. Sprich weiter, Julia, bring ihn zum Reden. Ich sah, wie George einen Finger hob. Meine Gedanken rasten. Lebte er noch, hatte ich ihn doch nicht getötet?
„J.R.“, sagte ich und jetzt hatte ich die Stimme einer Grundschullehrerin, „ist Sandra in der Edison Mall?“
„Was glaubst du eigentlich, wo ein Lieferwagen am wenigsten auffällt? Na?“
„Da, wo geliefert wird“, sagte ich pflichtschuldigst.
„Genau und wo wird
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