Das 2. Gesicht
ihn und J.R. in diesem Mercedes-Schiff ins Adlon kutschiert hatte und wie ich am Abend mit ihm Hand in Hand über die Linden geschlendert war.
Damals hatte ich sein Gesicht für ein paar Sekunden in Rot gesehen. Daraufhin war ich in Panik weggerannt. Hatte ich etwa auch so etwas wie das zweite Gesicht? Etwas, von dem J.R. ja immer behauptet hatte, dass George es hätte.
Meine Mutter jedenfalls hatte immer so etwas wie einen siebten Sinn gehabt. Sie hatte mir bei unserer letzten Begegnung, eine Woche, bevor sie den Unfall hatte, noch zugerufen: „Komm mal her.“ Ich war schon ein paar Treppen nach unten gesprungen, also drehte ich mich noch mal um. Sie nahm mich erneut in den Arm und drückte mich ganz fest an sich. „Was ist los, Mama?“, habe ich sie gefragt. „Ich liebe dich, Kleines. Das sollte man ab und zu mal sagen, man weiß ja nicht, ob man sich wiedersieht.“ Ich habe damals ein wenig abfällig gelacht und dachte, dass meiner Mutter die drei Gläser Baileys, die wir zusammen getrunken hatten, in den Kopf gestiegen waren. Aber vielleicht hatte sie an diesem Abend so eine Ahnung gehabt, dass wir uns nicht mehr wiedersehen würden. Ich hatte das lange verdrängt, so, wie ich die Trauer um meine Mutter immer wieder versucht hatte, zu verdrängen. Ja, ich hatte Georges Gesicht in Blut getaucht gesehen. Wirklich unheimlich.
Man wartete immer noch auf ein Spenderorgan für George. An seinem Krankenbett lernte ich dann endlich auch seine Eltern kennen. Die waren aus Burlington angereist. Selbstverständlich habe ich sie sofort in Georges Haus eingeladen. Sie zogen es vor, in einem Hotel zu wohnen, von wegen der Medienbelagerung. Vielleicht zogen sie es auch einfach nur vor, nicht mit mir in einem Haus zu schlafen, schließlich hatte ich ihren Sohn fast erschossen. Ich fühlte, dass sie mir übel nahmen, dass George mich ihnen nie vorgestellt hatte, „wie es sich gehört, wenn der Sohn vorhat zu heiraten“.
Also habe ich ihnen in diesem Krankenhauszimmer erzählt, was passiert war. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, dass George seine leibliche Mutter gesucht und gefunden hatte, geschweige denn, dass George einen Bruder hatte, den er als Manager beschäftigte. An den drei Tagen – länger hielten die Ostermans es nicht in Fort Myers aus – begann ich langsam zu verstehen, was George an dieser ach so liebevollen Familie auszusetzen hatte. Lucy und Timothy strahlten eine fast schon körperlich fühlbare Bigotterie aus. Sie waren die unfehlbaren Eltern, die ihrem Sohn die ganze Welt zu Füßen gelegt hatten.
„Er ist ja nicht umsonst so ein erfolgreicher Schriftsteller geworden“, sagte Timothy, „Ich habe mich bemüht, ihn von Kindesbeinen an zu einer guten Sprache zu erziehen.“
„Und er hat immer gute Noten in Englisch gehabt, er hat immer so wundervolle Aufsätze geschrieben.“
„Außerdem hat er von uns die Disziplin gelernt, das Durchhaltevermögen, das man als Autor braucht, um erfolgreich zu sein.“
„Ja“, sagte Lucy und tätschelte den Arm ihres Mannes, „und das Siegen. Das Siegen hast du ihm beigebracht.“
Ich dachte daran, wie mir George erzählt hatte, wie sehr seine Eltern versucht hatten, ihn davon abzuhalten, so eine „brotlose Kunst“ wie das Schreiben auszuüben. Als er dann „Kreatives Schreiben“ an der Uni als Kurs wählte, haben sie ihm gedroht, nicht mehr für seinen Studentenunterhalt aufzukommen. Liebreizende Geschöpfe, wirklich.
Ich war also überhaupt nicht traurig, als Lucy und Timothy wieder Richtung Vermont abdüsten. Denn sie halfen mir nicht bei meiner Trauer, dafür machten sie mich wütend. Ich dankte meinem Ehemann lautlos dafür, dass er mir eine frühe Begegnung mit seinen Eltern erspart hatte.
Die Stunden dehnten sich im Krankenhaus zu Tagen. Es war inzwischen sehr heiß geworden, der Sommer in Florida ist außerhalb klimatisierter Räume kaum auszuhalten. Mit Silverstein bereiteten wir den Prozess vor. Er setzte darauf, dass man den Prozess so lange verschieben würde, bis George wieder soweit hergestellt wäre, dass er vor Gericht aussagen könnte.
Allerdings hatte ich jetzt ein Problem, an das ich in den Tagen, in denen mich die Medien hetzten wie ein waidwundes Tier und die ich im Chaos der Gefühle verbrachte, gar nicht gedacht hatte. Ich hatte zwar eine Kreditkarte ohne Limit auf meinen Namen. Aber alle Rechnungen gingen wohl zu J.R. oder zu Georges Strandhütte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich zum Beispiel Elly oder die Security
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