Das 4. Buch des Blutes - 4
Dieser Blickwechsel beinhaltete eine stumme Absprache, von der Gyer, der am Tisch saß und sich Notizen für seine morgige Rede machte, nichts wissen konnte. Die ganze Tour über hatte Earl Virginia immer wieder mit Pillen versorgt. Nichts Ausgefallenes; bloß Tranquilizer, um ihre zunehmend überreizten Nerven zu beruhigen. Aber sie wurden – wie Aufputschmittel, Make-up und Schmuck – von einem Mann mit Gyers Prinzipien nicht gutgeheißen, und als ihr Gatte durch Zufall die Drogen entdeckt hatte, war es zu einem häßlichen Auftritt gekommen. Earl hatte die Hauptlast des Zorns seines Arbeitgebers auf sich genommen, wofür Virginia zutiefst dankbar war. Und obwohl er die strikte Anweisung hatte, das Vergehen nie mehr zu wiederholen, versorgte er sie bald von neuem. Ihrer beider Schuld war ein beinah vergnügliches Geheimnis zwischen ihnen, und eben jetzt las sie Komplizenschaft in seinen Augen wie er in den ihren.
»Keine Coca-Cola«, sagte Gyer.
»Also, ich hab’ gedacht, wir könn’ mal ’ne Ausnahme machen…«
»Eine Ausnahme ?« fragte Gyer, wobei seine Stimme den typischen Unterton des Eigeninteresses annahm. Rhetorik lag in der Luft, und Earl verfluchte seine idiotische Zunge. »Der Herr gibt uns keine Gebote zur Lebensführung, damit wir Ausnahmen davon machen können, Earl. Das weißt du doch nur zu gut!«
Im Augenblick kümmerte es Earl wenig, was der Herr tat oder sagte. Seine Sorge galt Virginia. Er wußte, sie war stark, trotz ihrer ausgesprochen südstaatlerischen Liebenswürdigkeit und der dazugehörigen Fassade der Zerbrechlichkeit; stark genug, um sie alle durch die kleineren Krisen der Tour zu bringen, wenn der Herr es unterließ einzuschreiten, um seinen Vertretern an der Front beizuspringen. Aber niemandes Stärke war unbegrenzt, und er spürte, daß sie kurz vor dem Zusammenbruch stand. So viel gab sie ihrem Mann; von ihrer Liebe und Bewunderung, ihrer Energie und Begeisterung.
Mehr als einmal hatte Earl in den vergangenen paar Wochen gedacht, daß sie vielleicht etwas Besseres verdiene als diesen Mann auf der Kanzel.
»Vielleicht könntest du mir etwas Eiswasser holen?« sagte sie und blickte auf zu ihm, Falten der Ermüdung unter den graublauen Augen. Sie war nach den herrschenden Standards nicht schön zu nennen: Dazu waren ihre Züge zu makellos aristokratisch. Die Erschöpfung verlieh ihnen einen neuen Zauber.
»Eiswasser, schon unterwegs«, sagte Earl, sich einen jovialen Tonfall abringend, den aufrechtzuerhalten er wenig Kraft hatte.
Er ging zur Tür.
»Warum rufst du nicht in der Rezeption an und läßt es jemanden rüberbringen?« schlug Gyer vor, als Earl eben hinausgehen wollte. »Ich wär’ gern die Reiseroute der nächsten Woche mit dir durchgegangen.«
»Is’ kein Problem«, sagte Earl, »wirklich. Außerdem sollt’
ich in Pampa anrufen und ihnen sagen, daß wir mit Verspätung eintreffen.« – und war zur Tür draußen und auf dem Laufgang, bevor man ihm widersprechen konnte.
Er brauchte einen Vorwand, um etwas Zeit für sich selber zu haben; die Atmosphäre zwischen Virginia und Gyer verschlechterte sich von Tag zu Tag, und das war kein erfreuliches Schauspiel. Einen langen Moment stand er da und sah dem herabströmenden Regen zu. Die Pappel in der Mitte des freien Platzes ließ den kahl werdenden Kopf in der tobenden Sintflut hängen; Earl wußte genau, wie der Baum weh fühlte.
Während er auf dem Laufgang stand und sich fragte, wie er sich die letzten acht Wochen der Tour seinen gesunden Verstand bewahren könne, kamen zwei Gestalten vom Highway herunter und überquerten den offenen Platz. Earl sah sie nicht, obwohl sie auf dem Weg, den sie zu Zimmer sieben einschlugen, direkt seine Blickrichtung kreuzten. Im durchnässenden Regen kamen sie näher, vom unbebauten Gelände hinter dem Rezeptionsbüro her – wo sie im Jahre 1955
ihren roten Buick geparkt hatten –, und obwohl der Regen in ständigem Guß herabrauschte, ließ er sie beide unberührt. Die Frau, deren Frisur seit den Fünfzigern zweimal in respektive aus der Mode gekommen war und deren Kleidung augenscheinlich aus derselben Zeit stammte, verlangsamte einen Moment lang ihre Schritte, um den Mann anzustarren, der den Pappelbaum mit solch gespannter Aufmerksamkeit beobachtete. Er hatte gütige Augen trotz seiner finsteren Miene. Zu meiner Zeit hätte ich mich möglicherweise in so einen Mann verliebt, dachte sie; aber schließlich war ihre Zeit lang vorbei, nicht wahr? Buck, ihr Gatte, wandte
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