Das 4. Buch des Blutes - 4
brannte wieder am Tor, ein Leitstern für die Verwirrten –, stieß er auf Pope, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Schotter lag.
Selbst wenn Karney die Kraft gehabt hätte – was nicht der Fall war –, nicht einmal ein kleines Vermögen hätte ihn dazu bewegen können, den Körper umzudrehen. Es reichte zu sehen, wie sich die Hände des Toten in seiner Qual in den Boden gegraben hatten, und wie die glänzenden Windungen seiner Eingeweide, vormals in seinem Unterleib so säuberlich in Schleifen gelegt, unter ihm hervorquollen. Das Buch, das wiederzugewinnen Pope sich so bemüht hatte, lag neben ihm.
Karney bückte sich, noch ganz benommen, um es aufzuheben.
Es war, glaubte er, eine bescheidene Entschädigung für die Schreckensnacht, die er durchgemacht hatte. Die nahe Zukunft würde ihn mit Fragen konfrontieren, die zu beantworten er sich nie erhoffen konnte, mit Beschuldigungen, gegen die er erbärmlich wenig Verteidigungsmöglichkeiten hatte. Aber im Licht der Lampe am Tor fand er die fleckigen Seiten lohnender, als erwartet hatte. Hier, mit akribischer Hand ins reine geschrieben und durch ausgefeilte Diagramme ergänzt, standen die Lehrsätze von Popes vergessener Wissenschaft: die Anleitungen für Knoten, mit denen man Liebe gewinnt und sich gesellschaftlichen Rang sichert; Knoten, um Seelen zu trennen und sie zu binden; für die Erzeugung von Reichtum und Kindern; für den Untergang der Welt.
Nach kurzer Durchsicht kletterte er über das Tor auf die Straße. Sie war, zu solch nachtschlafender Zeit, menschenleer.
In der Sozialbausiedlung gegenüber brannten Lichter; Zimmer, in denen die Kranken die Stunden bis zum Morgen ausharrten.
Statt seinen erschöpften Gliedern noch etwas abzuverlangen, beschloß Karney, an Ort und Stelle zu warten, bis er ein Fahrzeug stoppen konnte, das ihn irgendwohin brachte, wo er vielleicht seine Geschichte erzählen würde. Er hatte jede Menge Beschäftigung. Obwohl sein Körper empfindungslos war und sein Kopf benebelt, fühlte er sich geistig so klar wie nie zuvor. Er entdeckte die Geheimnisse auf den Seiten von Popes verbotenem Buch wie eine Oase. Gierig trinkend sah er in seltener Hochstimmung der Pilgerschaft entgegen, die vor ihm lag.
Offenbarungen
Von Tornados in Amarillo war die Rede gewesen; von Rindern, Wagen und gelegentlich ganzen Häusern, die emporgewirbelt und wieder auf die Erde geschleudert worden waren, von ganzen Gemeinden, verwüstet innerhalb weniger verheerender Augenblicke. Vielleicht war es das, was Virginia an diesem Abend so unruhig machte. Entweder das, oder die angestaute Ermüdung nach dieser endlosen Fahrerei über leere Highways mit dem ausdruckslosen texanischen Himmel als einziger Kulisse, und am Ende des nächsten Reiseabschnitts nichts zum Drauf-Freuen außer einer neuen Runde Hymnen und Höllenfeuer. Mit Kreuzschmerzen saß sie auf dem Rücksitz des schwarzen Pontiac und versuchte ihr möglichstes, ein bißchen Schlaf zu ergattern. Aber die heiße, regungslose Luft klammerte sich noch immer um ihren zarten Hals und rief Träume des Erstickens hervor; also gab sie ihre Bemühungen auszuruhen auf. Sie begnügte sich damit, zuzusehen, wie die Weizenfelder vorbeizogen, und die Getreidesilos zu zählen, die sich hell vor den im Nordosten allmählich aufziehenden Gewitterwolken abhoben.
Vor ihr im Wagen sang Earl beim Fahren vor sich hin. Neben ihr – kaum mehr als einen halben Meter entfernt, aber in jeder Hinsicht eine Million Meilen auf Distanz – studierte John die Episteln des heiligen Paulus und murmelte die Worte beim Lesen. Dann, während sie durch Pantex Village fuhren (»Hier bauen sie die Gefechtsköpfe«, sagte Earl orakelhaft und schwieg dann wieder), setzte der Regen ein. Unvermittelt kam er herunter, mit dem hereinbrechenden Abend, lieh Dunkelheit der Dunkelheit und tauchte den Amarillo-Pampa-Highway beinah augenblicklich in wässerige Nacht.
Virginia kurbelte ihr Fenster hoch; der Regen war zwar erfrischend, durchtränkte aber ihr schmuckloses, blaues Kleid, das einzige, das John ihr bei den Versammlungen zu tragen gestattete. Jetzt gab es hinter der Glasscheibe nichts mehr zu sehen. Sie saß da, die Unruhe in ihr wuchs mit jedem Kilometer, den sie Richtung Pampa zurücklegten, und lauschte der Wucht des auf das Wagendach prasselnden Regengusses, und ihrem Gatten, der flüsternd neben ihr sprach:
»Darum spricht er: Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.
So sehet
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