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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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nun zu, wie ihr fürsichtiglich wandelt, nicht als die Unweisen, sondern als die Weisen, Und schicket euch in die Zeit, denn es ist böse Zeit«
    Er saß wie stets aufrecht, die immer gleiche, eselsohrige, weichrückige Bibel, die er seit Jahren benutzte, aufgeschlagen in seinem Schoß. Ganz sicher konnte er die Passagen die er gerade las, auswendig; er zitierte sie oft genug und dies in einer derartigen Mischung aus Altvertrautheit und Noch-nie-gesagt, daß die Worte von ihm selbst und nicht von Paulus hätten sein können, frisch geprägt in seinem eigenen Mund. Diese mediale Leidenschaft und Kraft würde John Gyer mit der Zeit zu Amerikas größtem Erweckungsprediger machen, daran bestand für Virginia kein Zweifel. Während der aufreibenden, hektischen Wochen der Drei-Staaten-Tour hatte ihr Mann eine beispiellose Reife und innere Festigkeit entfaltet. Mit dieser neu gefundenen Professionalität hatte seine Botschaft nichts von ihrem Ungestüm verloren – es war noch immer diese altmodische Mischung aus Verdammnis und Erlösung, wie er sie stets vortrug –, aber jetzt verfügte er absolut souverän über seine Gaben, und in einer Stadt nach der anderen – in Oklahoma und New Mexico und jetzt in Texas – waren die Gläubigen zu Hunderten und Tausenden zusammengeströmt, ihm zu lauschen, begierig darauf, erneut ins Reich Gottes einzugehen. In Pampa, fünfundfünfzig Kilometer von hier, würden sie sich bereits versammeln, trotz des Regens, entschlossen, sich eine Aussicht auf die Haupttribüne zu verschaffen, ehe der Kreuzritter kam. Sie würden ihre Kinder dabeihaben, ihre Ersparnisse und, vor allem, ihren Hunger nach Vergebung.
    Aber Vergebung war morgen dran. Erst mußten sie Pampa einmal erreichen, und der Regen wurde immer schlimmer. Earl hatte mit dem Einsetzen des Unwetters sein Gesinge aufgegeben und konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf die vor ihm liegende Straße. Hin und wieder seufzte er vor sich hin und streckte sich in seinem Sitz. Virginia versuchte, sich nicht mit seiner Fahrweise zu befassen, aber als der Wolkenbruch zur Sintflut wurde, konnte sie ihre Ängstlichkeit nicht mehr unterdrücken. Sie beugte sich auf dem Rücksitz nach vorn und fing, nach entgegenkommenden Fahrzeugen Ausschau haltend, an, durch die Windschutzscheibe zu spähen.
    Unter Umständen wie diesen waren Unfälle nichts Ungewöhnliches: schlechtes Wetter und ein ermüdeter Fahrer, der noch unbedingt die nächsten dreißig Kilometer hinter sich bringen wollte. John neben ihr spürte ihre Besorgnis.
    »Der Herr ist mit uns«, sagte er, ohne von den eng bedruckten Seiten aufzusehen, obwohl es für ihn zum Lesen mittlerweile viel zu dunkel war.
    »Es ist eine schlimme Nacht, John«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir nicht bis Pampa durchfahren. Earl muß müde sein.«
    »Mir geht’s bestens«, warf Earl ein. »Is’ nicht mehr besonders weit.«
    »Du bist müde«, wiederholte Virginia. »Wir alle sind es.«
    »Na, wir könnten uns ja vielleicht ein Motel suchen«, schlug Gyer vor. »Was sagst du, Earl?«
    Earl zuckte mit den breiten Schultern. »Ganz wie du meinst, Boss«, antwortete er, ohne ihm viel Widerstände entgegenzusetzen.

    Gyer wandte sich seiner Frau zu und tätschelte ihr sanft den Handrücken. »Wir suchen uns ein Motel«, sagte er. »Earl kann in Pampa anrufen und Bescheid sagen, daß wir morgen früh bei ihnen sind. Wie wär’n das?«
    Sie lächelte ihn an, aber er schaute nicht her zu ihr.
    »Ich glaub’, die nächste Ausfahrt ist White Deer«, informierte Earl Virginia. »Vielleicht gibt’s dort ’n Motel.«
    Genaugenommen lag das Cottonwood-Motel eineinhalb Kilometer westlich von White Deer in einer Ödlandzone südlich der Bundesstraße 60, eine kleine Anlage mit einem toten oder sterbenden Pappelbaum auf dem Grundstück zwischen den beiden Gebäuden. Zahlreiche Wagen standen bereits auf dem Motelparkplatz, und in den meisten Zimmern brannte Licht; Flüchtlinge vor dem Unwetter wie sie selber, vermutlich. Earl fuhr auf das Grundstück und parkte in größtmöglicher Nähe zum Rezeptionsbüro, spurtete dann über den regengepeitschten Boden, um sich zu erkundigen, ob für diese Nacht noch Zimmer frei seien. Nachdem der Motor abgestellt war, wirkte das Geräusch des Regens auf dem Dach des Pontiac bedrückender denn je.
    »Hoffentlich kommen wir hier unter«, sagte Virginia und sah zu, wie das Wasser auf dem Fenster die Neonschrift verwischte Gyer antwortete nicht. Über ihnen donnerte der Regen

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