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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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sich nach ihr um. »Kommst du, Sadie?« wollte er wissen, und sie folgte ihm auf den betonierten Laufgang (als sie das letzte Mal hier war, war er noch aus Holz) und durch die offene Tür von Zimmer sieben.
    Ein Frösteln lief Earl den Rücken hinunter. Zu lang den Regen angestarrt, dachte er; das – und zuviel vergebliches Verlangen. Er ging bis ans Ende des Innenhofs, wappnete sich gegen den Spurt über den freien Platz zur Rezeption, zählte bis drei und rannte los.
    Sadie Durning blickte flüchtig über die Schulter, um zu sehen, wie Earl abzog, und schaute dann wieder Buck an. Die Jahre hatten den Groll, den sie gegen ihren Mann hegte, nicht gemildert, ebensowenig wie sie seine unsteten Gesichtszüge oder seine zu locker sitzende Lache verbessert hatten. Sie hatte ihn am 2. Juni 1955 nicht besonders gemocht, und sie mochte ihn jetzt, exakt dreißig Jahre später, nicht besonders. Buck Durning hatte die Seele eines Schürzenjägers, worauf ihr Vater sie immer warnend hingewiesen hatte. Das war an sich nicht so schlimm: Vielleicht war dies das maskuline Grundleiden. Aber es hatte zu solch widerwärtigem Verhalten geführt, daß sie schließlich seiner endlosen Betrügereien überdrüssig wurde. Er
    – nichtsahnend bis zum Schluß – hatte ihre gedrückte Stimmung prompt zum Anlaß für zweite Flitterwochen genommen. Diese unglaubliche Heuchelei hatte endlich jeglichen Gedanken an Nachsicht oder Vergebung, den sie noch hätte hegen können, zum Verstummen gebracht, und als sie, heute nacht vor drei Jahrzehnten, im Cottonwood-Motel abstiegen, war sie auf mehr vorbereitet als auf eine Liebesnacht, Sie hatte Buck sich duschen lassen und, als er aus dem Bad auftauchte, die .38er Smith and Wesson auf ihn gerichtet und ihm ein klaffendes Loch in die Brust gepustet.
    Dann war sie davongerannt, hatte unterwegs das Schießeisen weggeworfen, wohl wissend, daß die Polizei sie zwangsläufig schnappen mußte, und nicht besonders bekümmert, als es so kam. Sie brachten sie dann ins Carson-Distriktgefängnis in Panhandle und nach wenigen Wochen vor Gericht. Kein einziges Mal versuchte sie, den Mord abzustreiten: In ihren achtunddreißig Lebensjahren hatte es genug Betrug gegeben, so wie die Dinge lagen. Und folglich, da sie sie für verstockt befanden, brachten sie sie ins Staatsgefängnis nach Huntsville, wählten einen hellen Tag im Oktober desselben Jahres, leiteten, kurzen Prozeß machend, 2250 Volt durch ihren Körper und brachten ihr unbußfertiges Herz beinah augenblicklich zum Stillstand. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Mit solch simplen moralischen Gleichungen war sie erzogen worden. Sie war nicht unglücklich gewesen, gemäß derselben Mathematik zu sterben.
    Aber heute nacht hatten sie und Buck sich dafür entschieden, die Reise, die sie dreißig Jahre vorher gemacht hatten, Schritt für Schritt zu rekonstruieren, um zu sehen, ob sich entdecken ließ, wie und weshalb ihre Ehe in Mord geendet hatte. Es war dies eine Chance, die vielen toten Liebenden geboten wurde, wenngleich sie offenbar nur wenige ergriffen; vielleicht widerstrebte ihnen die Vorstellung, die Katastrophe, die ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte, noch einmal durchleben zu müssen, doch zu sehr. Sadie hingegen konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob alles vorherbestimmt gewesen sei: Ob ein zärtliches Wort von Buck oder ein Ausdruck echter Zuneigung in seinen trüben Augen ihrem Finger am Abzug hätte Einhalt gebieten und so ihrer beider Leben hätte retten können. Dieses Beisammensein für eine Nacht würde ihnen Gelegenheit geben, die Historie zu testen. Unsichtbar, unhörbar würden sie demselben Weg folgen wie vor drei Jahrzehnten: Die nächsten paar Stunden würden Aufschluß darüber geben, ob dieser Weg unausweichlich zu Mord hatte führen müssen.
    Zimmer sieben war belegt und das Zimmer daneben gleichfalls; die Verbindungstür stand weit offen, und Neonlampen brannten in beiden. Die Besitzergreifung war kein Problem. Sadie war längst an den ätherischen Zustand gewöhnt, daran, sich ungesehen unter den Lebenden zu bewegen. In derartiger Verfassung hatte sie an der Hochzeit ihrer Nichte teilgenommen sowie später an der Beerdigung ihres Vaters, hatte mit dem toten Alten neben dem Grab gestanden und über die Trauergäste getratscht. Buck hingegen
    – zu keiner Zeit sehr flexibel – neigte da schon eher zur Unachtsamkeit. Hoffentlich gab er heute nacht acht. Im Grunde lag ihm ebensoviel daran, das Experiment bis zum Ende durchzuziehen, wie

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