Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
pfützenübersäte Erde.
    »Soll ich den Krug tragen?« erbot sich Earl. »Und Sie nehmen das Tablett mit den Gläsern.«
    »Ja, gut«, antwortete sie. Dann, mit einem ebenso direkten Blick in seine Augen wie vorhin, sagte sie: »Wie heißen Sie?«
    »Earl«, sagte er. »Earl Rayburn.«
    »Ich bin Laura-May Cade.«
    »Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Laura-May.«

    »Du weißt über diesen Ort Bescheid, oder?« sagte sie. »Papa hat’s dir erzählt, nehm’ ich an.«
    »Du meinst die Tornados?« fragte er.
    »Nein«, antwortete sie, »Mord mein’ ich.«
    Sadie stand am Fußende des Bettes und schaute auf die darauf liegende Frau hinab. Sie versteht nicht, etwas aus sich zu machen, dachte Sadie; die Kleidung war düster, und ihr Haar war unvorteilhaft frisiert. Sie murmelte etwas in ihrem halbkomatösen Zustand, und dann – unvermittelt – erwachte sie. Ihre Augen öffneten sich weit. Irgendeine schemenhafte Bestürzung zeichnete sich in ihnen ab; und auch Qual. Sadie sah sie an und seufzte.
    »Was gibt’s?« wollte Buck wissen. Er hatte die Koffer hingestellt und saß in einem Sessel gegenüber dem vierten Insassen des Zimmers, einem großen Mann mit hageren, wuchtigen Gesichtszügen und einer stahlgrauen Haarmähne, deren sich ein alttestamentarischer Prophet nicht hätte zu schämen brauchen.
    »Nichts«, antwortete Sadie.
    »Ich möchte mit diesen beiden kein Zimmer teilen«, sagte Buck.
    »Ja, aber das ist das Zimmer, in dem… in dem wir uns aufgehalten haben«, antwortete Sadie.
    »Ziehn wir eine Tür weiter«, schlug Buck vor und deutete durch die offene Tür in Zimmer acht hinüber. »Dann sind wir ungestörter.«
    »Sie können uns nicht sehen«, sagte Sadie.
    »Aber ich kann sie sehen«, antwortete Buck, »und ich bekomm’ eine Gänsehaut davon, ’s wird schon nichts ausmachen, wenn wir in ’nem anderen Zimmer sind, du lieber Himmel.« Ohne auf Zustimmung von Sadie zu warten, griff sich Buck die Koffer und trug sie durch die Zwischentür in Earls Zimmer. »Kommst du, oder nicht?« fragte er. Sadie nickte. Es war besser, ihm nachzugeben; wenn sie jetzt anfinge, sich herumzustreiten, kämen sie nie über die erste Hürde.
    Aussöhnung sollte der Grundton dieser Wiedervereinigung sein, rief sie sich ins Gedächtnis und folgte ihm gehorsam ins Zimmer acht.
    Auf dem Bett spielte Virginia mit dem Gedanken aufzustehen und ins Bad zu gehen, wo sie unbemerkt ein oder zwei Tranquilizer nehmen könnte. Aber Johns Gegenwart schüchterte sie ein; manchmal hatte sie das Gefühl, er könne direkt in sie hineinsehen und all ihre persönlichste Schuld sein ein aufgeschlagenes Buch für ihn. Sie war sicher, daß er sie, wenn sie jetzt aufstünde und in ihrer Tasche nach den Medikamenten herumwühlte, fragen würde, was sie da mache.
    Und dann würde sie ganz gewiß mit der Wahrheit herausplatzen. Sie hatte nicht die Kraft, sich der Glut seiner anklagenden Augen zu widersetzen. Nein, es war besser, hier zu liegen und abzuwarten, bis Earl mit dem Wasser zurückkam. Dann, wenn die zwei Männer die Reiseroute besprachen, würde sie sich davonstehlen und die verbotenen Pillen nehmen.
    Das Licht im Zimmer hatte etwas Beunruhigendes, schwer Faßliches an sich, und sie wollte die Augen vor seinen Gaukeleien verschließen. Erst vor ein paar Sekunden hatte das Licht am Fußende des Berts eine Luftspiegelung hervorgezaubert; ein Mottenflügelflattern opaker Materie, die in der Luft schon fast Gestalt annahm, ehe sie davonhuschte.
    Drüben am Fenster las John wieder im Flüsterton. Zuerst schnappte sie nur wenige Worte auf:
    »Und aus dem Rauch kamen Heuschrecken auf die Erde…«
    Augenblicklich erkannte sie den Passus wieder; seine Bildlichkeit war unverwechselbar.

    »… Und ihnen ward Macht gegeben, wie die Skorpione auf Erden Macht haben.«
    Der Vers war aus der Offenbarung des Heiligen Johannes.
    Die Worte, die folgten, konnte sie auswendig. Er hatte sie auf den Versammlungen immer wieder vorgetragen:
    »Und es ward zu ihnen gesagt, daß sie nicht beleidigten das Gras auf Erden, noch kein Grünes, noch keinen Baum. Sondern allein die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen.«
    Gyer liebte die Offenbarung. Er las sie öfter als das Neue Testament, dessen Geschichten er auswendig konnte, dessen Sprache ihn jedoch nicht auf die Weise entflammte der magisch beschwörende Rhythmus der Offenbarung. Wenn er die Offenbarung verkündigte, hatte er teil an ihrer apokalyptischen Vision und geriet durch sie

Weitere Kostenlose Bücher