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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Vernunft. Und nun, endlich, das Zeitalter der Begierde. Und danach – das Ende der Zeitalter; das Ende vielleicht von allem. Denn die Feuer, die nun geschürt wurden, waren grimmiger, als die arglose Welt glaubte. Es waren schreckliche Feuer, Feuer ohne Ende, die die Welt in einem letzten, grimmigen Licht erstrahlen lassen würden.
    So dachte Welles, während er in seinem Bett lag. Mehrere Stunden war er schon bei Bewußtsein, hatte es aber vorgezogen, sich dies nicht anmerken zu lassen. Jedesmal, wenn eine Schwester in sein Zimmer kam, hielt er die Augen fest geschlossen und verlangsamte seinen Atemrhythmus. Er wußte, daß er die Vortäuschung nicht auf Dauer aufrechterhalten konnte, aber die Stunden gaben ihm Zeit, die Schritte zu durchdenken, die er unternehmen mußte, sobald er hier herauskam. Sein erster Weg: zurück in die Versuchsanstalt; es gab dort Aufzeichnungen, die er zu vernichten, Bänder, die er zu löschen hatte. Von jetzt ab, das stand für ihn fest, durfte jedes Fitzchen Information über das Projekt Blinder Junge einzig und allein in seinem Kopf existieren. Auf diese Weise hätte er sein Meisterwerk restlos unter Kontrolle, und niemand außer ihm könnte einen Anspruch darauf geltend machen.
    Ihm war nie viel daran gelegen, aus der Entdeckung Geld herauszuschlagen, obwohl ihm durchaus klar war, wie gewinnbringend ein wirksames Aphrodisiakum wäre; aus materiellem Reichtum hatte er sich nie etwas gemacht.
    Anfangs war seine Motivation für die Entwicklung der Droge –
    auf die sie rein zufällig bei der Erprobung eines Wirkstoffs zur unterstützenden Behandlung Schizophrener gestoßen waren –
    wissenschaftlicher Natur gewesen. Aber seine Motive waren im Verlauf ihrer monatelangen, geheimen Arbeit gereift. Er sah sich mittlerweile als Bringer des Paradieses auf Erden. Er wollte um keinen Preis, daß irgendwer versuchte, ihm diese heilige Rolle zu entreißen.
    So dachte er, während er in seinem Bett lag und auf eine günstige Gelegenheit zum Entwischen wartete.

    Auf seinem Weg durch die Straßen hätte Jerome Welles’
    Vision aus vollem Herzen bejaht. Vielleicht war von allen Menschen er am versessensten darauf, das Zeitalter der Begierde willkommen zu heißen. Überall entdeckte er dessen Vorzeichen. An Reklamewänden und auf Kinowerbeflächen, in Schaufenstern, auf Fernsehbildschirmen: überall der Körper als Ware. Wo das Fleisch nicht zur Vermarktung von Produkten aus Stahl und Stein verwendet wurde, nahmen jene Produkte ihrerseits die Eigenschaften des Fleisches an. Autos glitten an ihm vorbei, mit jedem wollüstigen Attribut bis auf den Atem: ihre kurvenreiche Karosserie schimmerte, plüschig lockte ihr Inneres; die Gebäude bedrängten ihn mit sexuellen Anspielungen. Turmspitzen; schmale Passagen; schattige Innenhöfe mit schaumig-weißen Springbrunnen. Unter der betörenden Reizflut des Seichten – den tausend trivialen Ablenkungen, denen er auf Straße und Platz begegnete – spürte er das volle Leben des Leibes, das jede Einzelheit beseelte.
    Der Anblick hielt das Feuer in ihm gut in Brand; nur deshalb und nur unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft schaffte er es, nicht jeder Kreatur, deren Blick den seinen streifte, seine Neigung aufzudrängen. Einige schienen die Brunst in ihm zu wittern und machten einen Bogen um ihn. Hunde witterten sie auch. Mehrere folgten ihm, erregt durch seine Erregung.
    Fliegen umkreisten in Schwärmen seinen Kopf. Aber die wachsende Unverkrampftheit gegenüber seinem Zustand gab ihm eine gewisse rudimentäre Kontrolle über diesen. Er wußte, daß er sich mit einer öffentlichen Zurschaustellung die Polizei auf den Hals laden würde; und das wiederum würde seine Abenteuer unmöglich machen. Bald genug würde sich das Feuer, das er entzündet hatte, ausbreiten: dann wollte er aus der Verborgenheit heraustreten und ungehindert in ihm baden. Bis dahin war Zurückhaltung das beste.
    Er hatte sich gelegentlich die Gesellschaft einer jungen Frau in Soho gekauft; jetzt machte er sich auf den Weg zu ihr. Der Nachmittag war erstickend heiß, aber Jerome verspürte keine Müdigkeit. Er hatte seit gestern abend nicht gegessen, aber er verspürte keinen Hunger. Ja, während er den engen Treppenaufgang zu dem Zimmer im ersten Stock hinaufstieg, das Angela früher bewohnt hatte, fühlte er sich energiegeladen wie ein Athlet, übersprudelnd vor Gesundheit. Der tadellos gekleidete und glasäugige Lude, der normalerweise irgendwo am oberen Treppenabsatz die

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