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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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heute abend. Sie entschuldigte sich und erklärte, daß sie vor kurzem sehr krank gewesen war und ihre Vitalität noch nicht wiedererlangt hatte.
    »Vielleicht an einem anderen Abend?« fragte er sanft.
    Der Mangel an Aggressivität in seiner Werbung war überzeugend, und sie sagte: »Das wäre schön. Vielen Dank.«
    Bevor sie sich verabschiedeten, tauschten sie die Telefonnummern aus. Er schien aufrichtig erfreut über die Aussicht, sie wiederzusehen, und das gab ihr das Gefühl, trotz allem, was man ihr herausgenommen hatte, immer noch ihr Geschlecht zu besitzen.
    Sie ging in ihre Wohnung zurück und fand ein Päckchen von Mitch und eine hungrige Katze auf der Schwelle. Sie fütterte das fordernde Tier, dann machte sie sich Kaffee und öffnete das Päckchen. Darin fand sie in einem Kokon aus mehreren Schichten weichem Packpapier einen Seidenschal, den Mitch mit seinem geübten Blick für ihren Geschmack ausgesucht hatte. Auf dem beiliegenden Zettel stand einfach: Deine Farbe.
    Ich liebe dich. Mitch. Sie wollte sofort zum Telefon greifen und mit ihm reden, aber irgendwie erschien ihr die Vorstellung, seine Stimme zu hören, gefährlich. Möglicherweise zu nahe am Schmerz. Er würde sie fragen, wie es ihr ging, und sie würde antworten, gut, und er würde beharren, ja, aber wirklich?, und sie würde sagen, ich bin leer; sie haben mir die halben Inne-reien herausgenommen, und ich werde niemals deine Kinder bekommen, oder die eines anderen, und das ist das Ende vom Lied, nicht? Wenn sie nur an die Unterhaltung dachte, spürte sie, wie nahe sie den Tränen war, und sie wickelte den Seidenschal in einem Anfall unerklärlicher Wut wieder in das Packpapier und vergrub ihn ganz hinten in ihrer untersten Schublade.
    Der Teufel sollte ihn dafür holen, daß er jetzt versuchte, alles besser zu machen, wo er doch, als sie ihn wirklich gebraucht hatte, nur von der Vaterschaft gesprochen hatte, und wie ihre Tumore ihm diese verwehrten.
    Es war ein klarer Abend – die kalte Haut des Himmels war zum Zerreißen gespannt. Sie wollte die Vorhänge im Wohnzimmer nicht zuziehen, obwohl Passanten hereinsehen würden, denn das tiefe Blau war so schön, daß sie es nicht versäumen wollte. Und so setzte sie sich ans Fenster und schaute zu, wie die Dunkelheit kam. Erst als die letzte Veränderung gewirkt war, sperrte sie die Kälte aus.
    Sie hatte keinen Appetit, aber sie machte sich trotzdem etwas zu essen und setzte sich damit vor den Fernseher. Sie stellte das Tablett weg, ohne zu Ende gegessen zu haben, und döste, wobei die Sendungen mit Unterbrechungen in ihr Bewußtsein vordrangen. Ein geistloser Komiker, dessen bloßes Hüsteln sein Publikum in Lachkrämpfe versetzte. Eine naturgeschichtliche Sendung über das Leben in der Serengeti. Nachrichten. Sie hatte heute morgen schon alles gelesen, was sie wissen mußte; die Schlagzeilen hatten sich nicht geändert.
    Eine Meldung jedoch erregte ihre Neugier: ein Interview mit dem Yachtkapitän, Michael Maybury, der an diesem Nachmittag gefunden worden war, nach zwei Wochen des Umhertreibens im Pazifik. Das Interview wurde von Australien übertragen, und der Empfang war schlecht. Das Bild von Mayburys bärtigem, sonnenverbranntem Gesicht drohte ständig im Flimmern zu verschwinden. Das Bild jedoch war nebensächlich: der Bericht über seine gescheiterte Reise, den er gab, war schon allein vom Hören her fesselnd, besonders ein Zwischenfall, der ihn beim Erzählen aufs neue zu ängstigen schien. Er war in einer Flaute, und da sein Schiff nicht über einen Motor verfügte, war er gezwungen gewesen, auf Wind zu warten. Es war keiner aufgekommen. Eine Woche war vergangen, während der er sich kaum einen Kilometer vom selben Fleck auf dem schlaffen Ozean fortbewegt hatte; kein Vogel oder vorüberziehendes Schiff unterbrach die Monotonie. Mit jeder Stunde, die verstrich, wuchs seine Klaustrophobie, und am achten Tag erreichte sie panikartige Ausmaße, so daß er, ein Rettungsseil um die Taille geschlungen, von Bord ging und von der Yacht weg-schwamm, um den wenigen Metern Deck zu entkommen. Doch sobald er die Yacht verlassen hatte und das ruhige, warme Wasser trat, verspürte er keinen Wunsch mehr, zurückzukehren. Warum nicht den Knoten lösen, hatte er bei sich gedacht, und sich treiben lassen.
    »Weshalb haben Sie Ihre Meinung geändert?« fragte der Interviewer.
    Hier runzelte Maybury die Stirn. Er hatte eindeutig den springenden Punkt seiner Geschichte erreicht, wollte sie aber nicht zu Ende

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