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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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obwohl sie in Wirklichkeit jede Nacht lang und tief schlief. Ihre Sicht war verschwommen, und die Erlebnisse dieses Tages wirkten – was sie sich mit extremer Erschöpfung erklärte – seltsam distanziert, als würde sie immer weiter und weiter von der Arbeit an ihrem Schreibtisch fortschweben; von ihren Empfindungen, von ihren eigenen Gedanken. Sie ertappte sich zweimal am Morgen, wie sie etwas sagte und sich dann fragte, wer sich diese Worte ausdachte. Sie war es ganz sicher nicht; sie war zu sehr mit Zuhören beschäftigt.
    Dann, eine Stunde nach dem Mittagessen, hatte sich die Lage plötzlich zum Schlechteren gewendet. Sie war ins Büro ihres Vorgesetzten gerufen und gebeten worden, sich zu setzen.
    »Alles in Ordnung mit Ihnen, Elaine?« hatte Mr. Chimes gefragt.
    »Ja«, hatte sie ihm gesagt. »Es geht mir gut.«
    »Man macht sich Sorgen…«
    »Worüber?«
    Chimes sah ein wenig verlegen aus. »Ihr Verhalten«, sagte er schließlich. »Bitte denken Sie nicht, daß ich neugierig bin, Elaine. Es ist nur so, wenn Sie noch Zeit brauchen, sich zu erholen …«
    »Mit mir ist alles in Ordnung.«
    »Aber Ihr Weinen…«
    »Was?«
    »Wie Sie heute geweint haben. Das besorgt uns.«
    »Weinen?« sagte sie. »Ich weine nicht.«
    Der Vorgesetzte schien verblüfft. »Aber Sie haben den ganzen Tag über geweint. Sie weinen sogar jetzt.«
    Elaine faßte sich zögernd an die Wange. Und tatsächlich, ja, sie weinte. Ihre Wange war naß. Sie stand auf, schockiert von ihrem eigenen Verhalten.
    »Ich wußte… ich wußte es nicht«, sagte sie. Die Worte klangen zwar absurd, aber es stimmte. Sie hatte es nicht gewußt.
    Erst jetzt, nachdem sie auf die Tatsache hingewiesen worden war, schmeckte sie die Tränen in Hals und Stirnhöhlen. Und mit diesem Geschmack kam die Erinnerung daran, wo dieses exzentrische Verhalten seinen Anfang genommen hatte: am Vorabend vor dem Fernsehgerät.
    »Warum nehmen Sie sich nicht den Rest des Tages frei?«
    »Ja.«
    »Nehmen Sie den Rest der Woche frei, wenn Sie wollen«, sagte Chimes. »Sie sind ein geschätztes Mitglied im Team, Elaine, das muß ich Ihnen nicht sagen. Wir wollen nicht, daß Sie zu Schaden kommen.«
    Diese letzte Bemerkung traf mit stechender Wucht. Dachten sie, daß sie am Rande des Selbstmords war? Faßten sie sie deshalb mit Samthandschuhen an? Es waren doch nur Tränen, die sie vergoß, um Gottes willen, und sie waren ihr so gleichgültig, daß sie nicht einmal bemerkt hatte, wie sie flossen.
    »Ich gehe nach Hause«, sagte sie. »Danke für Ihre… Anteilnahme. «
    Der Vorgesetzte sah sie etwas unbehaglich an. »Es muß ein sehr traumatisches Erlebnis für Sie gewesen sein«, sagte er.
    »Das verstehen wir alle, wirklich. Wenn Ihnen einmal danach ist, darüber zu reden, können Sie jederzeit…«
    Sie lehnte ab, dankte ihm aber noch einmal und ging aus dem Büro.
    Als sie sich im Spiegel der Damentoilette von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, wurde ihr erst bewußt, wie schlimm sie wirklich aussah. Ihre Haut war gerötet, die Augen aufgequollen. Sie gab sich größte Mühe, die Spuren dieses schmerzfreien Kummers zu beseitigen, dann nahm sie den Mantel und machte sich auf den Heimweg. Als sie die Haltestelle der U-Bahn erreicht hatte, war ihr klargeworden, daß es unklug wäre, in die leere Wohnung zurückzukehren. Sie würde grübeln, sie würde schlafen (so viel Schlaf in letzter Zeit, und so vollkommen traumlos), aber keins von beiden würde ihren Geisteszustand verbessern. Die Glocken der Kirche Heilige Unschuld, die durch den klaren Nachmittag läuteten, erinnerten sie an den Rauch und den Platz und Mr. Kavanagh. Das, so dachte sie, war ein geeigneter Platz für sie. Sie konnte sich am Sonnenschein erfreuen und nachdenken. Vielleicht würde sie ihren Verehrer wiedersehen.
    Sie fand den Weg zu Allerheiligen mühelos wieder, aber dort wartete eine Enttäuschung auf sie. Die Abbruchstelle war abgesperrt worden, die Grenze wurde von einer Reihe Pfosten gebildet, zwischen denen rotes Fluoreszenzband gespannt war.
    Die Stelle wurde von nicht weniger als vier Polizisten bewacht, die die Fußgänger um den Platz herum dirigierten. Die Arbeiter und ihre Hämmer waren aus dem Schatten von Allerheiligen verbannt worden, und jetzt beherrschte eine völlig andere Auswahl von Leuten – Akademiker in Anzügen – die Zone hinter dem Band, manche waren stirnrunzelnd in Unterhaltungen vertieft, andere standen im morastigen Erdreich und sahen fragend zu der verlassenen Kirche auf.

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