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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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flüsternd. Wie der Junge sich als Medium betätigt und im Namen der Toten Geschichten erfunden hatte, um Gewinn zu machen; und wie die Toten seines Spotts schließlich überdrüssig geworden und in die Welt der Lebenden eingedrungen waren, um eine reine und untadelige Rache zu verüben. Sie hatten auf ihn geschrieben, hatten ihre wahren Testamente auf seine Haut tätowiert, damit er nie wieder ihr Leid zum Geschäft machen sollte. Sie hatten seinen Körper in ein lebendes Buch verwandelt, ein Buch des Blutes, in das auf jedem Zentimeter fein säuberlich ihre Geschichten eingraviert waren.
    Wyburd war kein leichtgläubiger Mann. Er hatte die Geschichte nie geglaubt – bis jetzt. Aber nun stand der lebende Beweis für die Wahrheit dieser Legende vor ihm. Es gab keinen einzigen Fleck auf McNeals Haut, auf dem nicht winzige Worte wuselten. Es war zwar vier Jahre oder länger her, seit die Geister über ihn hergefallen waren, aber die Haut sah immer noch empfindlich aus, als würden die Wunden nie richtig heilen.
    »Haben Sie genug gesehen?« fragte der Junge. »Es gibt noch mehr. Er ist von Kopf bis Fuß bedeckt. Manchmal fragt er sich, ob sie nicht auch noch die Innenseite vollgeschrieben haben.«
    Er seufzte. »Möchten Sie etwas trinken?«
    Wyburd nickte. Vielleicht würde ein Schluck Alkohol das Zittern seiner Hände unterbinden.
    McNeal schenkte sich ein Glas Wodka ein, trank einen Schluck daraus, und dann schenkte er seinem Gast auch eines ein. Währenddessen entdeckte Wyburd, daß der Nacken des Jungen ebenso dicht beschrieben war wie Gesicht und Hände und die Schrift im Haaransatz verschwand. Es schien, als wäre nicht einmal die Kopfhaut der Aufmerksamkeit der Verfasser entgangen.
    »Warum sprechen Sie von sich selbst in der dritten Person?«
    fragte er McNeal, als der Junge mit dem Glas zurückkam. »Als wären Sie gar nicht hier… ?«
    »Der Junge?« sagte McNeal. »Der ist nicht hier. Der ist schon lange nicht mehr hier.«
    Er setzte sich; trank. Wyburd fühlte sich mehr als nur ein wenig unbehaglich. War der Junge einfach verrückt, oder spielte er ein wahnsinniges Spiel?
    Der Junge trank noch einen großen Schluck Wodka, dann fragte er nüchtern: »Was ist sie Ihnen wert?«
    Wyburd runzelte die Stirn. »Was ist was wert?«
    »Seine Haut«, platzte der Junge heraus. »Darum sind Sie doch gekommen, oder nicht?«
    Wyburd trank sein Glas mit zwei Schlucken leer, antwortete aber nicht.
    McNeal zuckte mit den Achseln. »Jeder hat das Recht zu schweigen«, sagte er. »Abgesehen von dem Jungen natürlich.
    Für den gibt es kein Schweigen.«
    Er betrachtete seine Hand und drehte sie um, damit er die Schrift auf der Handfläche sehen konnte.
    »Die Geschichten gehen Tag und Nacht weiter, sie hören nie auf. Sehen Sie, sie erzählen sich selbst. Sie bluten und bluten.
    Man kann sie niemals zum Schweigen bringen, man kann sie niemals heilen.«
    Er ist verrückt, dachte Wyburd, und diese Erkenntnis machte sein Vorhaben irgendwie leichter. Es war besser, ein krankes Tier zu töten als ein gesundes.
    »Wissen Sie, es gibt eine Straße…« sagte der Junge. Er sah seinen Henker nicht einmal an. »Eine Straße, die die Toten beschreiten. Er hat sie gesehen. Eine dunkle, seltsame Straße voller Menschen. Es ist kein Tag vergangen, an dem er nicht…
    nicht dorthin zurückkehren wollte.«
    »Zurückkehren ?« fragte Wyburd, um den Jungen am Reden zu halten. Er glitt mit der Hand in die Jackentasche, zum Messer. Es tröstete ihn im Angesicht dieses Wahnsinns.
    »Nichts ist genug«, sagte McNeal. »Liebe nicht. Musik nicht. Nichts.«
    Wyburd packte das Messer und zog es aus der Tasche. Der Junge sah die Klinge an und erwärmte sich für den Anblick.
    »Sie haben ihm nie gesagt, was sie wert ist«, sagte er.
    »Zweihunderttausend«, antwortete Wyburd.
    »Jemand, den er kennt?«
    Der Attentäter schüttelte den Kopf. »Ein Flüchtling«, sagte er. »In Rio. Ein Sammler.«
    »Von Häuten?«
    »Von Häuten.«
    Der Junge stellte sein Glas hin. Er murmelte etwas, das Wyburd nicht verstand. Dann sagte er ganz leise: »Schnell, tun Sie es.«
    Er zuckte zusammen, als die Klinge in sein Herz eindrang, aber Wyburd verstand sein Handwerk. Es war vorbei, bevor der Junge überhaupt merkte, daß es passiert war, geschweige denn etwas spürte. Das war das Ende, jedenfalls für ihn. Für Wyburd fing die eigentliche Arbeit erst an. Er brauchte zwei Stunden, um ihn zu häuten. Als er fertig war – die Haut in frisches Leinen eingewickelt,

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