Das 9. Urteil
Bürgersteig.
War das die Polizei?
Halb wahnsinnig vor Angst kämpfte Sarah gegen den Drang an, sich umzudrehen. Die Panik war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Falls es tatsächlich die Polizei war und die ihr irgendwelche Fragen stellen würde … das wäre das Ende.
Wer war es dann? Wer verfolgte sie?
Eine Hupe plärrte, und dann schoss das Auto mit quietschenden Reifen an ihr vorbei. Es war ein alter, silberfarbener Geländewagen, aus dessen Seitenfenster ein Idiot röhrte: »Knackiger Arsch, Süße!« Sarah senkte den Kopf, während das grölende Gelächter sich entfernte.
Ihr roter Saturn stand noch genau da, wo sie ihn abgestellt hatte. Bei einem Blick durch das Schaufenster konnte sie erkennen, dass der Bio-Supermarkt so gut wie leer war.
Ein junger Mann mit hellbraunen Haaren machte gerade die letzte Kasse dicht. Er hob den Blick, als Sarah auf ihn zukam, und sagte: »Ich habe mich aus meinem Auto ausgeschlossen. Kann ich vielleicht mal telefonieren?«
»Da draußen steht eine Telefonzelle«, erwiderte er und zeigte mit dem Daumen über die Schulter. Dann veränderte sich seine Miene schlagartig.
»Mrs. Wells? Ich bin’s, Mark Ogrodnick. Ich war doch in Ihrer Klasse vor fünf Jahren.«
Sarahs Herz hämmerte sofort wieder los wie wild. Wie konnte es sein, dass sie ausgerechnet in den einzigen Laden in Pacific Heights gestolpert war, wo jemand sie kannte?
»Mark. Wie schön, dich zu sehen. Kannst du mir vielleicht dein Handy borgen? Ich muss meinen Mann anrufen.«
Mark starrte auf ihre nackten Füße, auf die blutige Schnittwunde an ihrem Schienbein. Er klappte den Mund auf und wieder zu, angelte ein Handy aus seiner Gesäßtasche und gab es Sarah. Sie bedankte sich und ging einen der Warengänge entlang, wählte und hörte es mehrmals klingeln. Schließlich nahm Heidi ab.
»Ich bin’s«, sagte Sarah. »Ich bin im Bioladen. Ich hab mich aus dem Auto ausgeschlossen.«
»O Gott, Sarah«, sagte Heidi. »Ich kann nicht weg. Die Kinder schlafen.«
»Wo ist denn das Scheusal?«
»Nicht da, aber er kann jede Minute nach Hause kommen. Tut mir leid.«
»Ist schon okay. Ich liebe dich. Bis bald.«
»Ich liebe dich auch.«
Ogrodnick hob den Kopf und schaltete die Schaufenstereleuchtung aus. Sarah hatte keine Wahl. Sie wählte ihre eigene Festnetznummer, und zum ersten Mal in ihrem Leben hoffte sie inständig, dass Trevor abnahm.
»Sarah, wo zum Teufel steckst du denn?«, wollte der Terror mit scharfem Unterton wissen.
Kleinlaut erzählte Sarah es ihm.
82
Nachdem Trevor sie bedroht, getrunken, sie herumgeschubst und seine ehelichen Rechte eingefordert hatte, leerte er noch ein Sixpack und ging zu Bett. Mit roten Augen, wund und verängstigt saß Sarah auf seinem Liegesessel und knetete ihren Trainingsball. Sie wechselte die Hand, verlangte ihren Fingern alles ab, so lange, bis sie fast taub waren. Dann schüttelte sie die Hände aus und fuhr den Laptop hoch.
Sobald sie online war, klickte sie auf Google News und gab »Hello Kitty« ein.
Erleichtert stellte sie fest, dass der Einbruch bei Diana King nirgendwo erwähnt wurde. Noch nicht. Allerdings war sie sehr in Sorge wegen des Werkzeugs, das sie auf ihrer überstürzten Flucht durch Pacific Heights weggeworfen hatte. Besonders die Frage, ob sie beim Wechseln der Stirnlampenbatterien Handschuhe getragen hatte, beschäftigte sie. Sie konnte sich nicht mehr erinnern.
Also suchte sie krampfhaft nach einer Lösung. Sie wusste noch, dass sie das Werkzeug in einen Plastiksack bei einer kleinen Baustelle geworfen hatte. Wenn jemand die Sachen fand, dachte er vielleicht: Cooles Teil. Und ganz umsonst . Oder der Sack wurde einfach gut verschnürt an den Straßenrand gestellt.
Jetzt fielen ihr all die anderen Dinge ein, diese Spur aus Brotkrümeln, die sie zurückgelassen hatte: ihr Sweatshirt, ihre Strümpfe und Schuhe. Für sich genommen waren sie nichts wert. Aber falls ihre Fingerabdrücke auf der Batterie waren, dann ließ sich ein existierender Verdacht durch jedes weitere Fundstück zusätzlich untermauern.
Meine Damen und Herren Geschworenen, falls dieser Schuh passt, dann müssen Sie die Angeklagte für zwanzig Jahre hinter Gitter schicken, und zwar ohne Aussicht auf Bewährung.
Sarah stöhnte auf und ließ den Cursor über die Hello-Kitty-Suchergebnisse gleiten. Sie las ein paar Artikel über ihre Raubzüge und ihre wachsende Popularität, aber es bereitete ihr kein Vergnügen. Ein stechender Kopfschmerz nistete sich hinter ihrem rechten
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