Das Achtsamkeits Buch
hat, jedoch relevant und ausgesprochen heilsam. Im Weiteren werden wir versuchen, ihn zu umschreiben – in dem Wissen, dass ein Name allenfalls eine Annäherung an etwas wäre, dem unsere Sprache nicht gerecht wird. Es kann sich nicht um einen »normalen« Persönlichkeitsteil handeln, denn die sind an bestimmte Perspektiven aus dem Leben eines Menschen gebunden. Seine Perspektive ähnelt der des inneren Beobachters und liegt auf einer anderen, höheren Ebene – mit einer weiten, allparteilichen Sicht über das Ganze der Person. Ohne Teile zu bevorzugen kann er gleichzeitig sich widersprechendeSichtweisen und Erlebensperspektiven annehmen, verstehen und wohlwollend nachempfinden, ohne in sie verstrickt zu sein. Über den Beobachter hinaus kommt eine Qualität hinzu, die in der klassischen buddhistischen Literatur oft nicht erscheint: nämlich aus dem Mitgefühl für die Teile heraus unterstützend zu handeln. Er kann ihnen zuhören, sie nach ihren Erfahrungen befragen, sie halten, umarmen, ihnen einen Platz im Inneren anbieten. Er kann besorgten Teilen versichern, dass sich die Person verlässlich um verletzte Anteile kümmert, oder dazu verhelfen, dass verschiedene Teile einander verstehen. Und es ist möglich, aus dieser Position steuernd einzugreifen, solange seine Beziehungen zu den Teilen gut sind: Man kann Teile auffordern, beiseite zu treten, um sich einem anderen Teil zuzuwenden, und sie bitten, mit ihrem Reaktionsbedürfnis ein wenig zu warten oder im richtigen Moment das Handeln zu übernehmen.
In diese Richtung weist auch das, was Genpo Merzel, Roshi (2008) »Big Mind Big Heart« nennt. Diese innere Perspektive ermöglicht gute Beziehungen zu allen Teilen der Person: gegenüber jedem Teil, der sich meldet, besteht die Bereitschaft zu guten Beziehungen. Thich Nhat Hanh lädt ein, diese Rolle wie die einer Mutter oder älterer Geschwister zu verstehen, die sich eines leidenden Kindes annehmen: »Die Kraft der Achtsamkeit ist wie ein großer Bruder oder eine große Schwester, die ein kleines Wesen in ihren Armen halten und das leidende Kind gut betreuen, welches unser Ärger ist, unsere Verzweiflung, oder Eifersucht« (Thich Nhat Hanh, 2004, S. 67).
Persönlichkeitsanteile identifizieren und benennen
Persönlichkeitsanteile, die situativ ausgelöst werden, sind natürliche, alltägliche Zustände eines Menschen. Sie ermöglichen uns, sofort und ohne zu überlegen, auf verschiedenste Anforderungen der Umwelt einzugehen. Bewusst reflektiertes Handeln wäre für die meisten Situationen viel zu langwierig.Dazu muss das Alltagshandeln zu schnell erfolgen. Wenn es rasches Handeln erfordert, dann ist es nicht nötig, darüber nachzudenken, wie das gemacht wird: störende Einflüsse werden ausgeschaltet, passende körperliche Aktivierungen eingeschaltet, der entsprechende Fokus eingestellt, das notwendige Wissen aktiviert. Um das alles gut zu organisieren, haben wir in Form unserer »Persönlichkeitsanteile« tief eingeschliffene Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster entwickelt. Sie sind das Ergebnis lebenslanger Vorerfahrungen und Lernprozesse. Ändert sich die Situation, ändert sich oft auch das innere Reaktionsmuster – ein anderer Teil wird aktiv. Die Forschung lässt vermuten, dass dieses Umschalten so schnell passiert, dass man es frühestens eine Viertel Sekunde später bewusst bemerken kann (Libet, 1985). Diese Teile der Persönlichkeit werden völlig automatisch aktiviert. Solange dies wie bei einem »Autopiloten« gut funktioniert und wir mit unserer Wirkung zufrieden sind, machen wir uns meist keine Gedanken über unsere Gewohnheiten und die Persönlichkeitsanteile, die jeweils dahinter stehen.
Die Frage, welcher Teil der Persönlichkeit den Lauf der Gedanken, die Stimmung oder die Reaktionen bestimmt, wird oft erst dann relevant, wenn man sich beeinträchtigt oder eingeengt fühlt. Das kann durch hartnäckige Gewohnheitsmuster geschehen, wie z.B. das vorschnelle Eingehen auf die Wünsche anderer; es können Stimmungen sein, die häufig wiederkehren, wie depressive Zustände. Auslösend für diese Selbsterforschung können auch emotionale Reaktionen auf andere sein, die unangemessen oder unverständlich erscheinen, oder die Verwunderung über bestimmte Facetten der eigenen Persönlichkeit, über die man sich mehr Klarheit wünscht.
Statt nur darüber nachzudenken und zu reflektieren, was einem da zu schaffen macht, kann man sich auf eine wahrnehmende, fühlende, »von Herzen kommende«,
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