Das Achtsamkeits Buch
die du empfindest?«
Klientin: »Ich glaub’ schon.«
Therapeut: »Hättest du Interesse, dieses Gefühl einmal genauer zu erforschen?«
Klientin: »Naja, das Thema Scham erwischt mich ja ständig.«
Therapeut: »Die ist schon eine wichtige Sache?«
Klientin: »Das stimmt.«
Therapeut: »Dann nimm dir doch mal einen Moment Zeit, um achtsam zu werden.« (Die beiden haben schon relativ viel in Achtsamkeit gearbeitet.)
Klientin: (Setzt sich etwas zurück, der Blick senkt sich, sie ist nach innen fokussiert.)
Therapeut: (nach ein paar Augenblicken) »Lass die Szene doch noch einmal vor deinem geistigen Auge ablaufen.«
Klientin: (nickt nach einer Weile)
Therapeut: »Was kannst du bemerken? (Pause) Wie reagiert dein Inneres?«
Klientin: (Pause) »Alles zieht sich zusammen … ich fühl’, wie ich zu lächeln anfange … da ist nur ein Impuls … nur weg!«
Therapeut: »Da passiert ’ne ganze Menge auf einmal?« (Pause)
Klientin: »Ja, aber dieses Kontrahieren … dieses Wegschrumpfen … das ist richtig intensiv.«
Therapeut: »Wollen wir einen Moment dabei bleiben und es genauer untersuchen?«
Klientin: (Nickt langsam) »Ja, … ja, … mein Gott, das ist, als wenn jede Zelle sich verkrampft.«
In der Folge erlaubt sich Frau L., langsam einen Schamzustand entstehen zu lassen, um ihn zu erspüren und zu erkunden. Sie bleibt für etwa 10 Minuten in Achtsamkeit, um herauszufinden, wie dieses Gefühl der Scham beschaffen ist und seine Hintergründe voll ins Bewusstsein treten zu lassen. Sie ist im Zustandder Scham und studiert zugleich diesen Zustand aus der Beobachterposition.
Der »Innere Beobachter«
Das hervorragende Merkmal eines achtsamen Zustandes ist, dass eine Betrachtungsperspektive entsteht, die hier der »Innere Beobachter« genannt wird. Durch den Vorgang des Beobachtens trennt sich das innere Erleben in zwei unterschiedliche Aspekte: Den Beobachter und das Beobachtete. Wenn ein Klient z.B. von einer großen Traurigkeit erfasst wird, umhüllt sie ihn und zieht ihn in sich hinein. Es ist normalerweise so, als ob er diese Traurigkeit wäre, als ob sie sein eigentliches Ich sei. Er hat kein Bewusstsein mehr dafür, dass dies ein vorübergehender Zustand ist, nur eine der vielen Seiten seiner Existenz. Er bekämpft die Traurigkeit oder lässt sich in sie hineinfallen. Mit einem gut trainierten Beobachter verändert sich das: Der Mensch erlebt sich mehr in einer Beobachtungsposition, aus der man sich der vorübergehenden Natur von Zuständen bewusst ist, und diese mit Interesse und Mitgefühl wahrnimmt. Die Traurigkeit ist da, aber sie ist nicht »Ich«. Das »Ich-Gefühl« ist eher mit dem Beobachter verbunden und dieser ist ruhig, gelassen und annehmend gestimmt.
In der buddhistischen Psychologie hat die Fähigkeit des Beobachtens sehr große Bedeutung. Das so entstehende Bewusstsein ist der Kern der großen Freiheit, die angestrebt wird. Der Beobachter wird dort auch der »Zeuge« genannt, um seine Unabhängigkeit zu betonen. Seine tägliche Übung führt zu einer gewissen Distanzierung vom Auf und Ab des Alltags sowie zu innerer Ruhe und einer mitfühlenden Haltung allen Aspekten des Lebens gegenüber, zu einer »Disidentifikation« vom Leiden (siehe nächster Absatz und »Die vier essenziellen Bausteine von Achtsamkeit«, S. 23) .
Schon die ersten Schritte der Achtsamkeit stärken die Fähigkeiten des inneren Beobachters. Zustände, in denen er präsent ist, zeichnen sich durch folgende Qualitäten aus:
1. Wachheit,
2. Fokussierung auf das gegenwärtige Erleben,
3. wohlwollendes Interesse,
4. Akzeptanz der beobachteten Phänomene,
5. Ruhe und Gelassenheit,
6. Langsamkeit und Sorgfalt.
Umgekehrt kann man sagen, dass Zustände, die nicht von diesen Qualitäten getragen sind, nicht die des Beobachters sind. Im Rahmen einer Behandlung kann der Therapeut kontinuierlich dafür sorgen, dass mit der Zeit die beobachtende Perspektive eingeübt wird. Die genannten Qualitäten entstehen allmählich und spontan als Eigenheiten des Beobachters.
Disidentifikation
Die Praxis der Achtsamkeit stärkt die Fähigkeit des inneren Beobachters, persönliche Zustände wahrzunehmen, aber nicht in sie hineingezogen zu werden. So wird vermieden, dass ein Mensch sich mit seinen verschiedenen Anteilen »identifiziert«, was bedeutet, einen Zustand als »Ich« wahrzunehmen. Zunehmende Disidentifikation würde – auf der Ebene der Sprache – die Aussage »Ich bin furchtbar wütend« in
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