Das Achtsamkeits Buch
nicht-achtsamkeitszentrierten Verfahren stammt. Jedes Bemühen um Veränderung verhindert das Erforschen. Es steht der Achtsamkeit im Wege, wenn man beispielsweise dem Klienten eine bestimmte Sichtweise nahelegt, auf ihn einwirkt, die Atmung zu verändern, oder ihn auffordert, ein bestimmtes Gefühl stärker auszudrücken.
Dagegen würden achtsame Interventionen eher das Erhalten bestehender, speziell auch Schutz gebender Strukturen fördern wollen, um sie präzise und in ihrer Komplexität zu untersuchen. Das führt oft zu einem paradox anmutenden Vorgehen, indem gerade das gestützt und akzeptierend studiert wird, was ein Problem zu sein scheint (Kurtz, 1990).
»Aufdeckung« mit Hilfe von Achtsamkeit
Sinn der Tiefenforschung
Aus Sicht der klassischen Psychoanalyse geht es in einer Heilbehandlung darum, insbesondere unbewusstes Erleben zu erkunden und zu verstehen. Elemente dieser Erkundungen sindim Wesentlichen: Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Bilder, Träume und manchmal auch körperliche Empfindungen und Impulse. Bewusstwerdung und Reflektion sollen dazu führen, dass schwierige Lebenserfahrungen tiefer verstanden und neu verarbeitet werden können und eine verbesserte Selbstregulation möglich wird.
An diesem Punkt wird deutlich, dass sich die Nutzung der Achtsamkeit für ein solches Vorgehen besonders gut eignet. Gerade eine sich ständig verfeinernde und stabilere Selbstregulation ist ja eines der wichtigen Ziele der Arbeit mit Achtsamkeit. Mit Unterstützung des Therapeuten kann der Klient in Achtsamkeit bedeutsame innere Objekte und Prozesse genau studieren. Der Therapeut hilft bei der Innenwendung, bei der Auswahl eines Arbeitsfokusses und vor allem dabei, tatsächlich so lange und so genau ein bestimmtes Erleben zu erforschen, bis neue und wesentliche Hintergründe aufgedeckt werden können. Jack Kornfield, einer der führenden Vertreter der Einsichtsmeditation im Westen, betont dieses Potential der Achtsamkeit: »Wir müssen ganz besonders die Kunst lernen, unsere Aufmerksamkeit auf die abgeschotteten Bereiche unserer Existenz zu lenken.«
So nähert sich der gemeinsam und genau gesteuerte Forschungsprozess jenen verborgenen inneren Gefühlen und Konflikten, die meist vor langer Zeit in eindringlichen Lernprozessen entstanden sind.
Ein Beispiel:
Michael Z., ein 46-jähriger homosexueller Elektroingenieur mit häufigen und monatelangen Auslandsaufträgen kommt in die Therapie, weil er sich isoliert und einsam fühlt. Er wirkt verschlossen und kühl. Mehrere längere Liebesbeziehungen scheiterten an seiner Neigung, sich zurückzuziehen und »gefühllos« zu werden. In der 12. Sitzung hat er ein Schlüsselerlebnis: Er erkundet in Achtsamkeit eine »Wand«, die sich immer wieder auch gegen seinen Willen und »vollautomatisch« aufrichtet, wenn seine Partnerwegen irgendetwas mit ihm unzufrieden waren. Diese »Wand« ist ihm ein Rätsel, er kann nichts gegen sie unternehmen, so sehr er es auch versucht. Die achtsame Erkundung lässt sie zunächst als eine Art »gläserne, zähe« Schicht erscheinen, etwa eine Handbreit dick und undurchdringlich. Als er mit Unterstützung des Therapeuten eine Weile bei diesem Bild beziehungsweise Gefühl verweilt und es genauer erkundet, ist es ihm plötzlich, als ob er sich dahinter duckte. Er kann beobachten, wie dieses duckende Wesen in ihm zu einem Kind wird, dessen Körper und Gefühle er genau empfindet. In den nächsten Minuten fängt er an, zum ersten Mal bewusst nachzuspüren, wie er sich als Kind bei seiner Ursprungsfamilie gefühlt und eingerichtet hatte.
Der Therapeut lädt ihn ein, weiter achtsam zu beobachten, was mit dem Kind los ist und wie es sich fühlt. Es tauchen eine Reihe von Szenen am Esstisch auf, die stellvertretend dafür sind, wie er von seinem Stiefvater ständig behandelt wurde: Ein dauernder Strom von Erniedrigungen, Hohn, Verachtung und zynische Bemerkungen hatten das Gefühl vollkommener Wertlosigkeit hinterlassen. Die Mutter, die ebenfalls unter ihrem Mann litt und ihn nicht liebte, hatte sich aber nicht getraut, sich zu trennen. Sie hatte sich unterworfen, genauso wie sie sich der Familienpatriarchin, ihrer eigenen Mutter, unterworfen hatte. Diese Großmutter dominierte immer noch ihr Leben, denn sie war reich und hart in ihren Bewertungen.
Das Klima machte den Jungen aggressiv, was das Verhalten seines Stiefvaters noch verstärkte und ihn innerlich in einen Abgrund von Selbstverachtung und Selbsterniedrigung führte. Es
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