Das Aion - Kinder der Sonne
ihr die eine oder andere unangenehme Frage gestellt hatte. Sobald ihr Vater jedoch mit einem ermutigenden Nicken reagierte, antwortete sie leise, aber ernst.
»Sag, Mira, sind das die einzigen dieser Tiere, die du bisher gefunden hast?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Alle anderen habe ich verkauft, auf dem Markt.«
Benoît zog eine Augenbraue hoch. »Verkauft?«
»Na ja …« Mira verzog die Mundwinkel, als sie an Jumper denken musste. »Die meisten jedenfalls.«
»Wann hast du das erste dieser Tiere gefangen?«
»Ich habe noch nie eines gefangen …«
Der Fremde runzelte die Stirn. »Heute waren es immerhin vier Stück, die du erwischt hast.«
»Nein.« Mira biss sich auf die Unterlippe. »Hätte ich sie gefangen, würden sie noch leben. Sie sind tot. Ich habe sie erlegt, nicht gefangen, Sansar.«
Benoît lächelte. »Ja, da hast du Recht. Aber ich bin kein Herr. Nenn mich einfach nur Ben.«
Ein Sympathiepunkt für den Fremden. Mira nickte und sah wieder auf Benoîts Hände.
»Nun, wann hast du zum ersten Mal eines davon erlegt?«, fragte er.
»Vor etwa fünf Wochen.« Mira betrachtete ihre Zehenspitzen. Vor lauter Aufregung hatte sie vergessen, den Sand von den Füßen zu wischen, bevor sie das Haus betreten hatte.
»Hast du jemals beobachtet, woher diese Tiere kommen?«
»Aus einem Loch in der Wüste.«
»Aus einem Loch?«, fragte Ben überrascht.
Miras Blick zuckte kurz hinüber zu ihrem Vater, dann wieder auf ihre Füße. »Aus einem tiefen Krater, der ganz unten ein Loch hat. Das Loch spuckt sie aus.«
»Sie kommen nicht herausgekrochen?«
»Nein, sie fliegen heraus. Es ist wie bei einem Springbrunnen, nur viel größer …«
Bens Blick war ins Leere gerichtet, während er zeitlupenhaft seine Nasenflügel massierte. »Weißt du noch, wo diese Stelle ist?«
»So ungefähr. Ich war nur einmal dort. Zuerst kam ein komisches Geräusch aus dem Loch und …« Mira stockte. Ihr Vater saß auf seinem Arbeitstisch und strich mit einer Hand durch seinen Bart, während er in der anderen eine Teetasse hielt. Dem Mädchen fiel auf, dass die Tasse in seiner Hand zitterte, als er sie zum Mund führte.
»Und dann, was ist passiert?« Ben legte den Skorpion auf den Tisch und schenkte sich Fruchtsaft nach.
»Dann …« Mira schluckte. »Dann wurde das Geräusch immer lauter … und plötzlich kamen Hunderte von Schlangen aus dem Loch herausgeflogen. Um mich herum wimmelte es auf einmal von Schlangen. Ich bekam furchtbare Angst und bin davongerannt.«
Für eine Weile herrschte Stille im Raum. Ben sah Mira an, als würde er darauf warten, dass sie sich ebenfalls in eine Schlange verwandelte. Ihr Vater schwieg, doch an der Art und Weise, wie er atmete, erkannte Mira, dass er ziemlich aufgewühlt war. Sie konnte es ihm nicht verübeln, denn sie hatte ihm nie etwas von dem Vorfall erzählt. Betreten sah sie von einem zum anderen und betrachtete schließlich wieder ihre Zehen.
Bens Miene wirkte ausdruckslos, aber Mira spürte, dass er konzentriert nachdachte. Er atmete hörbar aus, trank sein Glas leer und ergriff wieder den ramponierten Skorpion. Dann stellte er das Licht der Lampe heller und verlangte von Miras Vater eine Zange und eine Schale. Das Gefäß platzierte er auf dem Tisch und hob die Kreatur so darüber, dass sich ihr Hinterleib über der Schale befand. Dann nahm er die Zange, setzte sie an den Schwanz des Skorpions und brach den künstlichen Giftstachel ab. Es gab ein leises Knacken, ansonsten passierte nichts. Ben nickte wie zur Bestätigung, dann setzte er die Zange an das hintere Ende des Schwanzes und brach auch diesen entzwei. Teile einer filigranen Maschinerie kamen zum Vorschein, ebenso die vertrauten roten und weißen Kabel. Etwas Farbloses tropfte zudem aus der »Wunde« in die Schale. Mira sog scharf die Luft ein. Sie hatte nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, was Ben damit bezweckte, ihre Beute in noch mehr Einzelteile zu zerlegen. Den Skorpion jedenfalls konnte sie nun getrost von ihrer Verkaufsliste streichen.
Ben legte Tier und Zange beiseite und widmete sich der Flüssigkeit in der Glasschale. Mira beobachtete neugierig, aber immer noch ratlos, wie der Besucher aus dem Institut einige Tropfen der Substanz auf bunte Papiere träufelte oder in kleinen Ampullen vermischte. Den größten Teil der Flüssigkeit füllte er in ein elektrisches Gerät, das mit einem handtellergroßen Monitor versehen war. Auf diesem wanderten Lichtbögen und -linien in verwirrendem Zickzack
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