Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
Auftreten sollte der führende Experte Bayerns für schwere Kriminalität und Auftragsmörder sein? Der wirkte eher wie ein langjähriger Globetrotter oder ein Seemann auf Landurlaub. Konnte man heutzutage überhaupt noch seinem ersten Eindruck vertrauen?
Das Büro von Driesel war ungefähr doppelt so groß wie das von Haderlein und mit zwei Computern und einer großen Schrankwand ausgestattet. Durch die hohen Fenster flutete das Licht in den Raum, und wenn man hinausblickte, konnte man die Jakobskirche am anderen Ende des vorgelagerten Platzes erkennen.
Driesel bat die Kollegen, sich zu setzen. »Also Franz, womit kann ich dir weiterhelfen?«, fragte er. »Wenn ich auf unbestimmte Zeit für euch freigestellt werde, muss das ja einen dramatischen Grund haben.«
Haderlein zog einen gefüllten Aktenordner aus seiner Tasche ließ ihn auf den Schreibtisch fallen.
»Das ist alles Wichtige, was wir bis jetzt zusammengetragen haben. Das Warum liegt noch einigermaßen im Dunkeln, aber sicher ist, dass ein russischsprachiger Killer durch die Gegend läuft und mehrere Schüler eines kirchlichen Heims in Bamberg von 1974 regelrecht hinrichtet. Einer fehlt ihm offensichtlich noch, er heißt Max Schiller, und den versuchen wir gerade verzweifelt zu finden, bevor der Russe ihn auch noch erwischt. Ob noch mehr gefährdet sind, können wir im Moment noch nicht sagen.«
»Und was wisst ihr über den Mann?«, erkundigte sich Driesel interessiert.
»Hier.« Lagerfeld zog die Phantomzeichnung von Manuela Rast aus der Tasche, auf die der Pförtner von Loewe angesprungen war. »Groß, dunkel gekleidet, spricht sehr gut deutsch und verwendet ein ungewöhnliches Kaliber.«
»Ein ungewöhnliches Kaliber?« Driesel hob fragend die Augenbrauen.
»9,7 Millimeter. Damit trifft er seine Opfer immer nur wenige Millimeter von der Gesichtsmitte in die Stirn.«
»9,7 Millimeter«, überlegte Driesel laut, während er sich die Phantomzeichnung genauer anguckte. »Das bedeutet, dass er sich seine ganze Munition von Hand anfertigen lassen muss. So viele Killer gibt es nicht, die das machen.«
»Aber 9,7 Millimeter ist doch schon sehr ungewöhnlich, oder?«, hakte Lagerfeld nach.
Driesel nickte. »Natürlich ist das ungewöhnlich. Allerdings denken Profikiller in ganz anderen Kategorien, was ihre Waffen anbelangt. Sie sind ihr Arbeitsgerät und zugleich ihr liebstes Spielzeug. So emotionslos sie ihre Arbeit auch verrichten, so intensiv ist die Bindung an ihre Waffe. Haben Sie einmal beobachtet, wie ein Biathlet mit seinem Gewehr umgeht? Wahrscheinlich wären die Ehefrauen derselben glücklich, genauso liebevoll behandelt zu werden. Und was die Kalibersondergrößen angeht, gibt es gleich mehrere Berufsmörder, die besondere Munitionsgrößen verwenden. Nicht viele, aber immerhin. Im russischen Kulturkreis ist das übrigens eher unüblich.« Hannes Driesel legte eine kurze Pause ein. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er dann, »aber ich habe tatsächlich einen Verdacht. Wenn der Typ der ist, von dem ich glaube, dass er es ist, dann haben wir ein Problem.«
»Und was für eins?«, erkundigte sich Lagerfeld.
»Ein sehr großes Problem«, sagte Driesel, ging zu einem seiner Computer und schaltete ihn ein. »Es gibt kein Foto von ihm, und in der Szene wird mehr oder weniger ehrfürchtig von ihm gesprochen, so als sei er ein Phantom.«
Haderlein und Lagerfeld sahen den Experten gespannt an. »Das heißt«, schlussfolgerte Haderlein, »es wird ihn niemand erkennen, weil ihn noch niemand gesehen hat?«
»Doch. Ich würde ihn erkennen.« Mit diesen Worten drehte Driesel sich auf seinem Stuhl um und blickte Haderlein und Lagerfeld mit einem plötzlich sehr ernsten und versteinerten Gesichtsausdruck an. Dann stand er plötzlich auf, legte die Trachtenjacke ab, sodass die beiden Kommissare das Schulterhalfter und die Pistole darin sehen konnten. Anschließend krempelte er auch noch den rechten Ärmel seines Hemds hoch und zeigte auf eine vier Zentimeter lange Narbe knapp oberhalb seines rechten unteren Rippenbogens.
»Das hat er mir vererbt«, sagte er kühl.
»Was ist passiert?«, fragte Haderlein.
»Vor drei Jahren in München«, begann sein alter Kollege ohne Umschweife und setzte sich wieder, »hatten wir einen Kronzeugen in einem Uranschmuggelprozess. Einen russischen Wissenschaftler. Eine Stunde vor seiner Verhandlung wollten wir ihn von Stadelheim ins Gericht verlegen. Wenige Meter vom Gebäude entfernt schlug der Mann zu. Drei meiner
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