Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
es war, als seien alle Menschen unaufhörlich in Bewegung. Von Bryan nahm niemand Notiz. Wenn er nicht in seinem Zimmer war, hielt er sich in der Münchner Innenstadt auf: in den Cafés der Kaufhäuser, in den Museen, auf den Bänken in den Parks, die unter dem nicht enden wollenden Sommer litten.
Die Warterei war unerträglich. Nichts konnte ihn ablenken. Kurz überlegte er, sich einige der vielen Pharma-Unternehmen in der Umgebung näher anzusehen, verwarf die Idee aber gleich wieder. Seine Gedanken kreisten einzig und allein um James. Die Olympischen Spiele interessierten ihn nicht.
Vielleicht werde ich alt, ging es Bryan durch den Kopf, als er auf den ausgeschalteten Fernseher in der hintersten Ecke seines Zimmers starrte. Aber es waren schließlich nicht die letzten Olympischen Spiele.
Am zehnten Tag klang Welles bei seinem Anruf anders als sonst.
»Vielleicht habe ich etwas für dich, Bryan.« Bryan stockte der Atem. »Mach dir keine zu großen Hoffnungen, aber ich glaube, ich habe deinen Kalendermann gefunden.«
»Wo bist du?«
»Ich bin in Stuttgart, aber er ist in Karlsruhe. Können wir uns dort treffen?«
Bryan wippte unruhig mit dem Fuß. Ihm wurde mulmig. »Ich werde mir ein Auto mieten. Soll ich dich unterwegs einsammeln?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Ich muss hier eben Bescheid geben, dass ich München verlasse. Aber in drei Stunden könnte ich bei dir sein.«
Bryan mietete sich wie stets im Ausland einen Jaguar – nicht, weil er eine Schwäche für schnelle Autos hatte, sondern aus einem gewissen Nationalstolz heraus. Geräuschlos glitt der Wagen dahin. Unverkennbar viel zu schnell für Welles’ Geschmack – er lehnte sich zur Wagenmitte und vermied es, auf die Fahrbahn zu sehen. »Ich habe ganz gezielt nach einem Mann gesucht, dessen Lebensinhalt es ist, stets penibelst über Jahre, Monate, Wochen und Tage Buch zu führen. Ich dachte mir, wenn dieser Werner Fricke noch lebt, kann es nur eine Frage der Zeit sein, bis ich mit meinen Anrufen in einer der vielen Einrichtungen Erfolg haben würde. Das klingt so einfach, hat mich aber mehrere Tage und viele Nerven gekostet. Ein Profi wäre die Sache vielleicht anders angegangen, aber ich habe schlicht in allen Heilanstalten angerufen, die ich finden konnte. Die, zu der wir jetzt fahren, war mindestens die fünfzigste.«
»Und was ist mit Gerhart Peuckert?« Bryan umklammerte das Lenkrad. Er richtete den Blick weit voraus auf die Fahrbahn.
»Tut mir leid, Bryan, aber zu Gerhart Peuckert wusste bisher niemand etwas zu sagen.«
»Schon in Ordnung, ich darf wohl auch nicht zu viel auf einmal erwarten. Du hast gute Arbeit geleistet, Keith. Eins nach dem anderen.« Bryan versuchte ein Lächeln. »Ich bin sehr gespannt darauf, ihn wiederzusehen. Er lebt, der gute Kalendermann.« Sein Blick wurde starr. »Und wenn der noch am Leben ist, besteht doch auch Hoffnung für James.«
»Sie können ihm gerne Fragen stellen. Ich kann Ihnen aber nicht versprechen, dass er Ihnen antworten wird.« Das Büroder Oberärztin war genau so hell und bunt wie der Rest der Klinik. Eine teure Klinik, die sich nicht jeder leisten konnte. »Wir haben Werner Frickes Familie über Ihren Besuch informiert, und sie hatte keine Einwände«, fuhr Dr. Würtz ernst fort. Sie sprach Englisch mit starkem deutschem Akzent. »Vielleicht könnte Ihnen Mr. Welles als Dolmetscher dienen, Mr. Scott?«
»Dürfen wir einen Blick in seine Krankenakte werfen?«
»Ich weiß, dass auch Sie Arzt sind, Mr. Scott. Würden Sie die Krankenakte eines Ihrer Patienten aus der Hand geben?«
»Vermutlich nicht, nein.«
»Wir haben eine Karteikarte mit den wichtigsten Patientendaten. Die können Sie gern einsehen.«
Bryan bat Welles, sämtliche psychiatrischen Begriffe außer Acht zu lassen. Fricke war krank und wurde behandelt, Punkt. Ihn interessierte nicht, ob bei Fricke zu irgendeinem Zeitpunkt die Hoffnung auf Heilung bestanden hatte. Ihn interessierte einzig die Geschichte dieser Klinik.
Die Aufzeichnungen begannen 1945. Es gab keinen Hinweis darauf, wo Werner Fricke vorher gewesen und wie es zu seiner Erkrankung gekommen war. Freiburg wurde überhaupt nicht erwähnt. Werner Fricke war am 3. März 1945 fast wie aus dem Nichts in dieser Klinik nahe Karlsruhe aufgetaucht. Man hatte ihn von einem S S-Behelfslager in Tübingen dorthin überführt. Davor war er für mehr als ein Jahr vermisst gemeldet gewesen. Von seiner persönlichen Vorgeschichte
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