Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Zimmer auf einem Stuhl und schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück. Der Fernseher war bereits ausgeschaltet. Es wurde langsam dunkel. Seine Lippen bewegten sich ein wenig, aber niemand hörte ihn.
Sechzig Kilometer südlich hatte Bryan genug von dem starken Verkehr auf der mehrspurigen Autobahn. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder fuhr er die schöne Strecke entlang des Rheins, oder er nahm die Landstraße am Rande des Schwarzwalds.
Er entschied sich für die Schwarzwald-Route.
Die Stelle, an der er seinerzeit wie ein Wahnsinniger versucht hatte, dem Breitgesichtigen und dem Schmächtigen zu entkommen, konnte und wollte er nicht passieren.
Noch nicht.
32
FREIBURGS STRASSENBAHNEN mit ihren fremden Geräuschen hatten Bryan abends in der Stadt willkommen geheißen. Ihr anfängliches tiefes Brummen, das sich in metallisches Kreischen verwandelte, wünschte ihm nun auch einen guten Morgen. Bryan erwachte, ohne recht zu wissen, wo er eigentlich war.
Das Deckenlicht in seinem Zimmer brannte noch, und er lag vollständig angekleidet auf dem Bett. Er war noch immer müde.
Kaum hatte er die Augen geöffnet, beschlich ihn ein unangenehmes Gefühl. Fast wie vor einer Prüfung. Wäre Laureen doch bloß an seiner Seite. Angesichts der vor ihm liegenden Aufgabe fühlte er sich so einsam.
»Hotel Roseneck« hatte auf dem Schild gestanden. Doch wo genau in dieser Stadt er sich einquartiert hatte, wusste Bryan nicht. Urachstraße, verriet die Visitenkarte, die der Portier ihm in der Nacht überreicht hatte.
»Gibt es hier ein Telefon?« Der Nachtportier hatte mit saurer Miene auf einen Münzfernsprecher gegenüber der steilen Treppe gezeigt.
»Können Sie wechseln?«, war Bryans letzte Frage des Tages gewesen.
»Ja, morgen früh!«, hatte die Antwort gelautet. Darum hatte Bryan noch nicht bei Laureen anrufen können.
Und jetzt warteten Freiburgs Straßen auf ihn. Und die Berge. Und der Bahnhof. Die Stadt übte eine hypnotische Wirkung auf ihn aus. Während der zehn Monate im Alphabethaus in den Bergen nördlich der Stadt hatte er sich an seine Phantasiengeklammert. Er hatte sich das Leben zu Hause in Canterbury vorgestellt. Die Freiheit. Und die so nahe gelegene Stadt.
Jetzt war er hier.
Das Hotel lag an einer Straßenecke direkt neben einem kleinen Park mit alten Bäumen. Schon der Eingang zeigte, dass das Haus bessere Tage gesehen hatte. Im Windfang blätterte der Putz von den Wänden, und von der Decke baumelte eine schmiedeeiserne Lampe. Die Urachstraße war nicht die feinste Adresse, lag aber praktisch, da sie eine Seitenstraße der Günthertalstraße war, die wiederum am Holzmarkt in die Kaiser-Joseph-Straße überging und durch das Martinstor, das alte Stadttor, direkt bis in den Stadtkern führte.
Lustlos sah sich Bryan mit einem städtischen Wirrwarr konfrontiert, auf das er nicht vorbereitet war und das nicht dazu beitrug, seine Gedanken zu sortieren. Also überließ er sich dem Treiben und mischte sich unter die vielen schlendernden oder vorübereilenden Fußgänger, unter Fahrrad- und Autofahrer sowie die an den Straßenbahnhaltestellen Wartenden. Er kam sich vor, als bewegte er sich vor einer Kulisse, zusammen mit unzähligen anderen Darstellern, einem bunten Haufen von der feisten, grauhaarigen Hausfrau bis zum grinsenden Jungen, der die Hände in den Taschen vergraben hat.
Freiburg war offenkundig eine wohlhabende Stadt.
Den Häusern in der Innenstadt war nichts mehr von den schweren Bombenangriffen anzusehen. Freiburg war wiederaufgebaut und restauriert worden und präsentierte sich ihm als eine bezaubernde, lebhafte und vielseitige Stadt.
Das Warenangebot der Kaufhäuser war üppig und die Freiburger konnten es sich offenbar auch leisten. Irgendwie versetzte Bryan dieser Gedanke einen Stich. Wie konnten die Menschen so sorglos in den Tag hineinleben? Die Schuld der Vergangenheit wog doch noch so schwer! Oder waren die Spuren wirklich schon völlig verblasst?
Im Eingangsbereich eines Supermarktes zerrte ein ganzer Pulk von Frauen Kleidung von einem Haufen, der vom Warentisch zu stürzen drohte. Kurze Sommerhosen für das kommende Jahr, sicher zu einem sehr fairen Preis. Neben ihnen hüpfte ein dunkelhäutiger älterer Mann auf einem Bein herum und probierte ein Paar Shorts über seiner langen, zerknitterten Hose an. Es war ein kurzer Eindruck des neuen Friedens, den Bryan im Vorbeigehen auffing.
Ziellos streifte er durch die Stadt.
Über die Bertoldstraße gelangte er zum Bahnhof.
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