Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
informierte Bryan über alle seine Versuche, die bislang ergebnislos geblieben waren. Das magere Resultat war ihm peinlich, davon konnte auch das muntere Treiben ringsum nicht ablenken. Auf seine abwehrende Handbewegung hin zog sich der Kellner zurück. »Wenn ich ewig weitermachen würde, dann würde ich bestimmt irgendwann über eine Spur stolpern, die zu jemandem führt, der etwas mit dem Sanatorium in Freiburg zu tun hatte. Aber ich fürchte, das würde Jahre dauern. Ich bin schließlich kein Profi. Die Frage ist ohnehin, ob ich der richtige Mann für diesen Job bin.« Welles schwieg kurz. »Ich habe nicht genug Zeit, das wissen wir«, fuhr er dann fort. »Es gibt viel zu viele medizinische Einrichtungen, viel zu viele Archive und viel zu viele Krankengeschichten. Dazu die enormen Entfernungen. Und nicht zu vergessen: die Mauer. Wer sagt denn, dass der entscheidende Hinweis in Westdeutschland zu finden ist? Wenn Ostdeutschland ins Spiel kommt, müssen wir erst einmal ein Visum beantragen und so weiter, und auch das kostet jede Menge Zeit.« Sein Lächeln war Resignation gewichen. »Was Sie brauchen, ist eine ganze Armee von Schnüfflern und Archivaren.«
»Hatte ich alles.«
»Und warum versuchen Sie es dann jetzt wieder?«
Bryan sah Welles lange schweigend an. Er musste ihm leider recht geben. Nichts sprach dafür, dass er James’ Schicksal diesmal auf die Spur kommen würde. Und es stimmte natürlich, dass er den Auftrag echten Profis hätte erteilen können. Aber Bryan hatte ja auch gar nicht vorgehabt, wieder in der Vergangenheit zu graben. Bis ihm die Vorsehung jenen unrasierten Mann geschickt hatte, der ihm jetzt gegenübersaß.
Er war immer davon ausgegangen, dass James tot war. Darüber wollte er aber jetzt endgültig Gewissheit haben.
»Es täte mir wirklich sehr leid, wenn Sie jetzt aufgäben. So sehr, dass es Konsequenzen für Ihre Anstellung in Bonn haben könnte.«
Welles’ Reaktion war unmittelbar vom Ausdruck seiner Augen abzulesen. Solche Drohungen zogen bei ihm nicht.
»Bitte entschuldigen Sie. Ich stehe zu meinem Wort, Mr. Welles, und Sie schulden mir überhaupt nichts. Ich bin einfach verzweifelt und fürchte fast, dass ich mir selbst mit dieser Geschichte einen Bärendienst erweise. Sie müssen wissen, dass der Mann, den wir suchen, mein bester Freund war. Er war Engländer wie ich, und sein wirklicher Name war James Teasdale. Ich habe ihn im Lazarett zurückgelassen und seither nie wieder gesehen. Wenn es mir jetzt nicht gelingt, herauszufinden, was mit ihm geschah, werde ich wohl bis ans Ende meiner Tage mit dieser Ungewissheit leben müssen. Denn noch einen Anlauf schaffe ich bestimmt nicht.«
Im Laufe ihres Gespräches waren die vielen Menschen um sie herum verschwunden. Selbst die Kellner hatten sich hinter den Tresen verzogen. Die Übertragung der Eröffnungsfeier hatte begonnen. Welles sah Bryan nachdenklich an, als der weitersprach: »Bleiben Sie noch vierzehn Tage, Mr. Welles. Bis zum Ende der Olympischen Spiele. Sie brauchen sich wirklich nur auf das Gebiet um Freiburg zu konzentrieren. Wenn Sie nichts finden, muss ich mir etwas anderes überlegen. Ich gebe Ihnen fünftausend Pfund für die zwei Wochen. Werden Sie das für mich tun, Mr. Welles?«
Aus dem Inneren des Cafés, aus allen Fenstern hörten sie Fanfaren. Die ganze Straße hallte wider vom Jubel Tausender Menschen. Welles fingerte seit geraumer Zeit mit ernster Miene an seinem leeren Glas herum. Als es kurz in der Sonne aufblitzte, verzogen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln. Dann streckte er Bryan die Hand hin.
»Nur, wenn du mich ab sofort Keith nennst!«
Trotz der sommerlichen Hitze und der gesundheitlichen Gefahren, die Menschenansammlungen dieser Größenordnung mit sich bringen, hatte Bryan im Olympischen Dorf kaumetwas zu tun. Bisher hatte Bryan nur telefonischen Kontakt zur britischen Delegation gehabt. Schon bei der Ankunft hatte man ihm seine Stadienausweise sowie die üblichen Einladungen zu den Empfängen und Festen überreicht. Doch obwohl ihm die Zeit mitunter lang wurde, verspürte er kein Bedürfnis nach Gesellschaft. Die ganze Welt blickte auf diesen Wirbelsturm eines Sportereignisses, aber Bryan befand sich in dessen Auge und bekam wenig davon mit. »Ich beneide dich«, sagte Keith Welles jedes Mal, wenn er morgens anrief, um Bericht zu erstatten. »Ich beneide dich überhaupt nicht«, sagte Laureen täglich am Telefon – und log.
Im Olympischen Dorf pulsierte das Leben,
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