Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
lassen.«
»Wissen Sie denn, ob er noch lebt?«
»Ich fürchte, dass er tot ist. Höchstwahrscheinlich befand er sich noch im Lazarett, als unsere Kameraden es bombardierten.«
»Was ist mit den üblichen Nachrichtenquellen und Archiven? Haben Sie sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft?«
»Darauf können Sie wetten.«
Obwohl Bryan ihm bei diesem Gespräch nur das Allernötigste erzählt hatte, willigte ein verwunderter Keith Welles ein, sich der Aufgabe anzunehmen. Er hatte Zeit und meinte, Bryan diesen Gefallen zu schulden.
Bryan übermittelte ihm detaillierte Informationen zu dem Sanatorium und der Umgebung sowie zu den anderen Patienten und dem Personal, mit Namen und äußeren Merkmalen. Dennoch konnte Keith Welles in seinem ersten Bericht über Gerhart Peuckerts Schicksal nichts Neues vermelden. Fast dreißig Jahre waren vergangen, und das Unterfangen sei darum so gut wie unmöglich, sagte Welles resigniert. Weder das Lazarett noch der gesuchte Mann hatten Spuren hinterlassen. Außerdem war ein Patient der Psychiatrie in den letzten Tagen des Dritten Reiches höchstwahrscheinlich liquidiert worden – Tötung aus Mitleid hieß bei dieser Patientengruppedie sicherste Behandlungsform des N S-Staatsapparates . Wenn er nicht zuvor schon bei den Bombardierungen der Alliierten sein Leben gelassen hatte.
Bryans Enttäuschung war immens. Die Begegnungen mit Welles und Wilkens sowie die Einladung zu den Olympischen Spielen, all das hatte in ihm die Hoffnung geweckt, James’ Schicksal doch noch rekonstruieren zu können – und endlich seinen Seelenfrieden zu finden.
»Könnten Sie nicht selbst ein paar Tage herkommen, Mr. Scott?«, bat Welles ihn eindringlich. »Sie wären mir ganz sicher eine große Hilfe.«
Am dritten Tag rief Bryan das Olympische Komitee an und erklärte, er habe geschäftlich in Süddeutschland zu tun. Wenn man ihm eine Unterkunft im Olympischen Dorf zur Verfügung stellte, dürfe man ihn bei akuten Problemen gerne konsultieren. Man willigte ein. Diesmal mussten es mehr als die in Mexiko erreichten fünf Gold-, fünf Silber- und drei Bronzemedaillen werden. Kostete es, was es wolle.
Laureen war einigermaßen verstimmt. Nicht, weil Bryan nun doch verreiste, sondern, weil sie es erst einen Tag vor der Abreise erfuhr.
»Hättest du mir das nicht wenigstens gestern sagen können? Du weißt genau, dass ich jetzt unmöglich noch mitkommen kann, Bryan. Hast du etwa geglaubt, ich könnte meiner Schwägerin sagen, sie soll zu Hause in Penarth bleiben? Dafür ist es zu spät. Bridget steht nämlich in diesem Augenblick in Cardiff auf dem Bahnsteig und wartet auf ihren Zug.«
Verzweifelt sah Laureen auf die Uhr. Sie seufzte. Bryan wich ihrem Blick aus. Er wusste genau, was sie dachte. Es war ungeheuer aufwendig gewesen, den Besuch der Schwägerin zu organisieren. Eine so späte Absage würde einem Weltuntergang gleichkommen.
Und genau das hatte er einkalkuliert.
31
DIE BEI BRYANS ANKUNFT am Münchner Flughafen herrschenden Zustände passten so gar nicht zu der verbreiteten Vorstellung von deutscher Ordnung und Effizienz. Beim Verlassen des Gebäudes schlug ihm die Hitze entgegen. Die Autos standen Stoßstange an Stoßstange. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen.
Keith Welles kam lächelnd auf ihn zu. »Chaos! Komplettes Chaos!« Welles zog ihn an der Fahrbahn entlang. Nur die Busse fuhren noch. Alle wollten bei der Eröffnung der Olympischen Spiele dabei sein.
Alle außer Bryan.
Die Stadt war ein einziges farbenfrohes Fest. Musiker, Maler, Zeichner, Tänzer – alles war hier versammelt. An jeder Straßenecke wurden die tausend Tage Vorbereitung deutlich.
Bryan kam es vor, als bewegte er sich zwischen all den lächelnden, sorglosen Deutschen und Ausländern wie in einem Vakuum. Die Gespenster der Vergangenheit ließen sich nur kurz verscheuchen. Dann drangen die Stimmen wieder zu ihm vor und mit ihnen die Erinnerung an die Sprache, den Tonfall und an Äußerungen, bei denen Bryan vor wenigen Jahren noch zusammengezuckt wäre. Er registrierte die vielen jungen Menschen, die fröhlich und ausgelassen in den Straßencafés saßen und diese Sprache so fließend und natürlich sprachen, ganz ohne all die hasserfüllten und drohenden Untertöne. Aber als er die zahllosen alten Männer und Frauen bemerkte, sah er in ihren Gesichtern das Kainsmal der Vergangenheit. Und da wusste er, dass er wieder in Feindesland war.
Sie saßen in einem Straßencafé und Welles
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