Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
bis in den entlegensten, menschenleeren Winkel des Parkes, blieb stehen und sah sich suchend in alle Richtungen um.
Da hörte er es hinter sich rascheln. Er drehte sich um und sah die Frau aus dem Gestrüpp unter den Bäumen treten. Sie marschierte geradewegs auf ihn zu, fixierte ihn und blieb wenige Schritte von ihm entfernt stehen. »Warum verfolgen Sie mich? Haben Sie nichts Besseres zu tun?«, fragte sie wütend.
Bryan verstand das meiste von dem, was sie sagte, aber antwortete nicht. Er konnte nicht.
Die Frau, die da vor ihm stand, war Schwester Petra.
Ihm sackte der Kreislauf weg, in seinen Ohren brauste es.
»Entschuldigung!«, keuchte er schließlich auf Englisch.
Die Frau vor ihm stutzte.
Bryan blieb die Luft weg, sein Puls wurde immer flacher. Ihm war kalt, und er fühlte alle Kraft in sich schwinden. Er schluckte.
Ihr Gesicht hatte sich kaum verändert. Gerade die kleinen, feinen Züge und die Mimik eines Menschen ändern sich nie. Die Prüfungen eines schweren Lebens hatten daran auch bei ihr nichts geändert, selbst wenn sie sich zu einer durchschnittlichen Frau mittleren Alters entwickelt hatte.
Was für ein unfassbarer, unheimlicher Zufall. Eiskalt lief es Bryan über den Rücken. Die Vergangenheit wurde erschreckend gegenwärtig, unzählige verdrängte Erinnerungen fügten sich unerträglich präzise zu einem Ganzen. Selbst der Klang ihrer Stimme war ihm plötzlich wieder gegenwärtig.
»Können wir uns darauf einigen, dass es für heute reicht?«, fragte sie und machte auf dem Absatz kehrt, ohne seine Antwort abzuwarten.
Sie hatte sich bereits einige Schritte von ihm entfernt, als Bryan hilflos und leise »Petra!« rief.
Die Frau erstarrte.
Sie kam wieder zurück und blieb vor ihm stehen. Ungläubig sah sie ihn an. »Wer sind Sie? Und woher wissen Sie, wie ich heiße?« Sie beobachtete ihn sehr genau. Sehr lange. Und schwieg.
Bryans Puls hämmerte. Vielleicht war dies der einzige Mensch, der ihm sagen konnte, was aus James geworden war?
Die Frau runzelte leicht die Stirn, als käme ihr ein Gedanke, und schüttelte dann unwirsch den Kopf. »Ich kenne keine Engländer. Also kann ich Sie auch nicht kennen. Würden Sie mir bitte erklären, was das soll?«, fragte sie in gebrochenem Englisch.
»Aber Sie erkennen mich doch wieder! Das sehe ich Ihnen an!«
»Ja, kann sein, dass ich Sie schon einmal gesehen habe. Aber ich habe so viele Menschen gesehen. Und ich kenne ganz bestimmt keine Engländer.«
»Schauen Sie mich an, Petra! Sie kennen mich, aber es ist Jahre her, seit Sie mich zuletzt gesehen haben. Sie haben mich nie sprechen hören. Und ich spreche nur Englisch, weil ich von Geburt an Engländer bin. Das wussten Sie damals aber nicht.« Mit jedem Wort wurde ihm das Gesicht der Frau vertrauter. Eine leichte Blässe verriet, dass auch sie aufgeregt war. »Ich bin nicht hier, um Sie zu belästigen, Petra. Das müssen Sie mir glauben. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie in Freiburg sind. Dass ich Sie oben auf der Brücke gesehen habe, war reiner Zufall. Auch ich habe Sie nicht gleich erkannt, Sie kamen mir nur irgendwie bekannt vor. Und dann bin ich neugierig geworden und bin Ihnen gefolgt.«
»Wer sind Sie? Woher kennen wir uns?« Sie wich einen Schritt zurück, als hätte sie Angst vor der Wahrheit.
»Das Alphabethaus. Ich war dort Patient. Erinnern Sie sich an Arno von der Leyen? So hieß ich damals, aber so heiße ich nicht wirklich.«
Bryan konnte sie gerade noch auffangen, als sie nach vorn taumelte. Doch sofort riss sie sich los. Kreidebleich taxierte sie ihn von oben bis unten, fasste sich an die Brust und schnappte nach Luft.
»Entschuldigung! Es – es tut mir leid! Ich wollte Sie nicht erschrecken!« Wie gebannt sah Bryan sie an. »Ich bin nach Freiburg gekommen, um Gerhart Peuckert zu finden«, fuhr er fort. »Können – könnten Sie mir dabei helfen?« Fragend breitete Bryan die Arme aus. Die Luft zwischen ihnen war wie elektrisiert.
»Gerhart Peuckert?« Sie atmete noch einmal tief ein, stand mit gesenktem Kopf da und sammelte sich. Als ihre Blicke sichbegegneten, hatte sie wieder etwas mehr Farbe im Gesicht. »Sie suchen Gerhart Peuckert? Ich glaube, den gibt es nicht mehr.«
37
WOLKEN WAREN AUFGEZOGEN, die das Licht im Wohnzimmer grau und kalt erscheinen ließen. Seit über zwei Minuten hielt Wilfried Kröner nun schon den Telefonhörer in der Hand. Das Gespräch mit Petra Wagner hatte ihm die Sprache verschlagen. Sie war ganz aufgeregt gewesen und hatte
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