Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
langer Schuppen. In ihm verbargen sich noch mehr Geweihe, Felle, Schädel sowie Messer und Dolche in allen erdenklichen Formen und Größen.
Die gesamte hintere Wand war der reinste Haushalts- und Eisenwarenhandel. Die dort angebrachten Regale quollen über vor Farbtöpfen, Tapetenresten, Kleistertöpfen, Kästen mit Beschlägen, Nägeln und Schrauben. Und Schnur. Ganze Rollen des Bindfadens, mit dem man früher bei der Ernte die Garben gebunden hatte.
Bryan setzte den bewusstlosen Lankau auf einen Stuhl mit hoher Rückenlehne und fesselte ihn sorgfältig daran. Er verbrauchte eine ganze Rolle der Schnur, um wirklich sicherzugehen, dass jeglicher Befreiungsversuch des Breitgesichtigen kläglich scheitern würde.
Lankau saß unbequem und schief, doch das schien ihn nicht weiter zu kümmern, als er schließlich zu sich kam. Er sah auf die Armlehnen und nahm regungslos zur Kenntnis, dass er an Armen und Beinen gefesselt war. Dann richtete er den Blick auf Bryan und wartete. In diesem Moment wirkte er richtig alt.
Wie man in einer bestimmten Situation überlebte, war für Bryan immer mit der Frage verbunden, wie gut man die Reaktionenseiner Mitmenschen einschätzen konnte. Im Alphabethaus hatten die Simulanten ihm und James nach dem Leben getrachtet, weil die beiden Engländer deren Betrug hätten aufdecken können. Das Verhalten Kröners und seiner Kumpane war also völlig logisch gewesen, denn sie wussten genauso gut wie Bryan, was mit entlarvten Simulanten passierte.
Dann war aber auch Schluss mit der Logik. Vor ihm saß ein Mensch, für den diese Dinge keine Bedeutung mehr haben konnten. Warum sollte er für längst vergangene Geschichten sein Leben aufs Spiel setzen? Was konnte man ihm jetzt noch anhaben? Bryan sah ihn an. Die Mundwinkel des Breitgesichtigen reichten fast bis an sein dickes Kinn. Sein Blick war eiskalt, abwartend. Als Bryan sich abwandte, sah er direkt in das Glasauge einer Rothirschtrophäe. Zwei der Simulanten hatten ihr Leben riskiert, weil sie ihn in jener Winternacht 1944 unbedingt hatten einfangen wollen. Zweifellos hatten sie dafür ihre Gründe gehabt, aber Bryan hatte nie verstanden, warum sie das damals getan hatten. Und ihn hätte das fast das Leben gekostet.
»Ich will, dass du mir alles erzählst«, sagte er. »Wenn ich dich am Leben lassen soll, musst du mir alles erzählen.«
»Und was ist alles?« Dem Hünen fiel das Atmen schwer. »Du bist wohl scharf auf unser Geld?« Er grunzte irgendetwas Unverständliches. »An das kommst du sowieso nicht ran. Ist ja nicht so, als würde es in kleinen Kisten verstaut hier im Haus herumliegen.«
»Was denn für Geld? Ich scheiß auf dich und dein Geld.« Bryan wandte sich um und sah Lankau in die Augen. »Ihr glaubt, ich bin hinter Geld her? Euch ging es die ganze Zeit nur um Geld?« Er machte einen Schritt auf den Breitgesichtigen zu. »Dann muss es ja verdammt viel sein.« Bryan baute sich vor Lankau auf und betrachtete ihn ruhig. Der Breitgesichtige verzog keine Miene, wirkte ganz wie ein Geschäftsmann bei einer wichtigen Verhandlung. Und Verhandlungen waren Bryans Spezialgebiet. Er beugte sich über den Gefesselten undfixierte ihn. »An finanziellen Mitteln fehlt es mir nun wirklich nicht, Lankau. Mit deinen Summen würde ich wahrscheinlich gerade mal die Bedürfnisse meiner Haustiere befriedigen können. Wenn du deine Familie wiedersehen willst, wirst du dich jetzt zusammenreißen müssen. Erzähl mir, was damals passiert ist. Und seitdem.« Bryan setzte sich Lankau gegenüber und zielte auf das gesunde Auge. »Fang einfach ganz von vorne an. Im Lazarett.«
»Im Lazarett!«, höhnte Lankau. »Nein danke, keine Lust. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir dich dort schon kaltgemacht. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
»Aber warum? Warum habt ihr mich nicht einfach in Ruhe gelassen? Was konnte ich euch denn tun? Ich war genau so ein Simulant wie ihr – na und? Es war Krieg. Wir wollten alle nur überleben.«
»Du hättest das tun können, was du dann auch getan hast. Abhauen! Und du hättest uns alle verraten können.«
»Habe ich aber nicht.«
»Du hättest dir den Waggon unter den Nagel reißen können, du Schwein!«, zischte Lankau zwischen den Zähnen hindurch.
»Ich hab dich nicht verstanden, sag das noch mal.« Bryan trat einen Schritt zurück. Lankau versuchte, Bryan ins Gesicht zu spucken, aber der Versuch misslang, und der Speichel lief ihm über das breite Kinn.
Da richtete Bryan die Pistole neu aus und
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