Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Lebensgefahr, denn alle Offiziere des Sicherheitsdienstes SD standen doppelt unter Beschuss. Viele wurden von den Kugeln ihrer eigenen Männer niedergestreckt. Kröner tat zwar an der sich immer weiter zurückziehenden Front mit den gleichen schmutzigen Mitteln wie früher Dienst und machte sich jede Menge Feinde. Dennoch konnte er sich in eine Position bringen, die es seinen Männern nicht erlaubte, ihm in den Rücken zu fallen. Als die Nachricht vom Tod des Führers und damit vom Ende seines unermüdlichen Kampfes gegen den Bolschewismus sie erreichte, verschwand Kröner ohne ein Wort, ohne Gepäck und ohne jede Schramme von seiner Stellung.
Lankau stierte eine Weile vor sich hin, bevor er berichtete, was aus Peter Stich geworden war. »Von Peter Stich haben wir nie wieder etwas gehört«, behauptete er dann. Arno von der Leyen reagierte nicht. Wachsam sah er ihn an und schwieg.
»Damals sind viele umgekommen«, fügte Lankau erklärend hinzu.
Was Arno von der Leyen nicht wissen musste, war, dass Stich nach der Entlassung aus dem Alphabethaus bei Ottoschwanden direkt zurück nach Berlin geschickt worden war, um seine frühere Tätigkeit als Verwalter der Konzentrationslager wieder aufzunehmen.
Das hatte zwei Gründe.
Zum einen wurde der Austausch von Truppen und Gefangenen zwischen den Konzentrationslagern intensiviert. Immer deutlicher hatte sich abgezeichnet, dass die Lager bald geschlossen und beseitigt werden mussten. Ein Vorhaben, das einen hohen Verwaltungsaufwand, Sachverstand und eine harte Hand erforderte. Zum anderen hatten die Panzerdivisionen, bei denen Stich früher Dienst getan hatte, große Verluste erlitten. Viele Divisionen waren deutlich geschrumpft oder ganz ausgelöscht. Dort brauchte man ihn also nicht mehr. In den Vernichtungslagern dagegen war seine Anwesenheit Gold wert. Und man wusste, dass er vollen Einsatz bringen würde.
So gesehen hatte Stich seine Rolle als Simulant bis zum Schluss von allen am besten gespielt. Er war in Sicherheit und verfügte über jede Menge Macht.
»Unser wichtigster Mann hieß ›der Postbote‹, aber das dürfte dich wohl kaum überraschen, oder?« Misstrauisch sah Lankau, wie sein Gegenüber nickte.
»Was ich weiß und was ich nicht weiß, geht dich nichts an. Aber wenn du irgendetwas auslässt, tust du das auf eigene Gefahr. Du wirst mir alles erzählen. Verstanden?«
Lankau lächelte und leckte sich die Mundwinkel. »Seine wahre Identität kann dir egal sein, er lebt ja nicht mehr. Aber uns war er ein guter Mann, als es darauf ankam.«
Arno von der Leyen reagierte nicht. Die Geschichte hatte ihn völlig in ihren Bann geschlagen.
Der Postbote hatte während der letzten Monate des Dritten Reiches in der Zentralverwaltung in Berlin einen guten Überblick über die politischen Säuberungen in Goebbels’ eigenem Gau gewonnen. Er war im Besitz der Namenslisten der Deportierten, der zum Tode Verurteilten, der Hingerichteten, der Verschwundenen und der Inhaftierten. Er wusste genau, wann die Nächsten dran waren.
Er plante, aus diesen Listen vier Identitäten herauszufischen, die vom Alter und vom Geschlecht her zu ihm und seinen Verschworenen passen würden. Er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Lankau und Dieter Schmidt ihren vermeintlichen Fluchtversuch überlebt hatten.
Die ersten drei Identitäten fand der Postbote ohne große Mühe. Es handelte sich um Gegner des Dritten Reiches, die in letzter Zeit »verschwunden« waren und die keine Angehörigen hatten. Also Menschen, die nach Kriegsende als Helden und Freiheitskämpfer angesehen werden würden. Wenn sie die Identität dieser Menschen annahmen, hatten sie bei einer späteren Rechtsverfolgung nichts zu befürchten.
Die Vernichtung jeglicher Beweise war dem Postboten ein Leichtes.
Nach einer geeigneten vierten Identität suchte der Postbote etwas länger. Im Gefängnis von Potsdam fand er die auf äußerst zynische Weise »geeignete« Identität. Dabei handelte es sich um einen Juden, der unter Vorspiegelung falscher Tatsachen den ganzen Krieg hindurch als einer der führenden Amtsmänner der Stadt gewirkt und sein Amt aus Sicht der Nationalsozialisten missbraucht hatte. Mit Korruption, Bestechung und Betrug hatte er dafür gesorgt, dass viele ihm den Tod wünschten, noch bevor die Verhöre abgeschlossen waren und er in ein KZ geschickt wurde. Diesen Wunsch hatte der Postbote den Geprellten mit Vergnügen erfüllt.
Der Jude verschwand spurlos.
Ein Mensch mehr oder weniger
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