Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
zurück, schon gar nicht ohne Dieter Schmidt.« Lankau kniff das kranke Auge zu. Am Hals hatte der Englischsprechende ganz dünne Haut. Sie war durchwoben von Adern direkt unter der Oberfläche. »Aber mein Hass auf dich hat mich am Leben gehalten, weißt du das, du Hund? Es war ein verdammt kalter Winter, erinnerst du dich? So viel Schnee habe ich selten gesehen. Doch der Schwarzwald war mir gnädig. Nach nur zwei Tagen wusste ich, dass ich überleben würde. Dort in der Gegend hatte jeder Hof ein Wirtschaftsgebäude und jedes Tagelöhnerhaus wenigstens eine Vorratskammer.« Lankau lächelte. »Ich kam also ganz gut zurecht, trotz der Hundepatrouillen, die man auf uns angesetzt hatte. Den anderen, die im Alphabethaus zurückgeblieben waren, erging es da schon deutlich schlechter. Und ganz besonders Gerhart Peuckert.« Zufrieden stellte Lankau fest, dass von der Leyen ein klein wenig zurückwich. Er hatte zu verschleiern versucht, wie extrem wachsam er war, aber jetzt hatte er sich ganz kurz verraten. Das Spiel war in vollem Gange.
In Kürze würde Lankau der Schwäche seines Widersachers auf die Spur gekommen sein.
In der folgenden Stunde wurde durch Lankaus Worte nicht nur die Vergangenheit wieder lebendig. Für von der Leyen lüfteten sich auch diverse Schleier.
Lankau registrierte jede Reaktion und jede Regung seines Gegenübers. Seine Erzählung war lückenlos, bis auf die Identität des Postboten, den ließ er einfach weg. Wenn nötig, übersprang er einen Teil der Handlung und ersetzte ihn durch ein anderes Geschehen. In groben Zügen entsprach seine Erzählung jedoch der Wahrheit.
Als Vonnegut an jenem späten Novembermorgen aufgewacht war, hatte er mit Schrecken feststellen müssen, dass auf seiner Etage drei Männer fehlten. Ohne etwas anzurühren, lief er von Zimmer zu Zimmer. Die zwei offen stehenden Fenster sprachen Bände. Die zurückgebliebenen Patienten lagen unbeteiligt in ihren Betten und warteten lächelnd auf Waschschüsseln und Frühstück. Der Kalendermann stand sogar auf und deutete eine Verneigung an.
Keine zehn Minuten später waren die Sicherheitsleute da. Sie rasten vor Wut. Sogar die Ärzte wurden brutal verhört, als seien sie Kriminelle oder als habe man sie bereits als Verantwortliche ausgemacht für das, was passiert war. Die vier Patienten in Lankaus Krankenzimmer wurden zwei Tage lang voneinander getrennt und dann einer nach dem anderen in einen Behandlungsraum im Erdgeschoss gebracht. Dort wurden sie verhört und mit lederumwickelten Stöcken geschlagen. Je länger es dauerte, bis sich die Peiniger der Unschuld des Befragten sicher waren, desto heftiger wurde die Folter. Und bei Gerhart Peuckert hatte es besonders lange gedauert. Trotz seines hohen S D-Ranges brachte der Verhörleiter ihm keinerlei kollegiales Verständnis entgegen. Keiner von ihnen kam ungeschoren davon, auch nicht Peter Stich, Kröner oder der Kalendermann. Selbst der General auf der anderen Seite des Ganges musste hinunter. Nach ein paar Stunden ließ man ihn gehen. Er sprach kein Wort.
Wenige Tage später kollabierte Gerhart Peuckert, und man glaubte, er würde sterben.
Sein kritischer Zustand hielt einige Tage an, dann stabilisierte er sich. Danach war alles wieder wie vorher, bis auf die körperlichen Nachwehen der Folter. Weder Gerhart Peuckert noch der weinende Kalendermann oder die anderen Patienten konnten ihren Schergen erklären, was mit den drei verschwundenen Patienten passiert war.
Kaum eine Woche später tauchten zwei ernst dreinblickendeMänner in Zivil auf, um mit dem verantwortlichen Sicherheitsoffizier, der die Verhöre geleitet hatte, zu reden. Mitten in einer Mahlzeit schleppten sie ihn weg und schlossen sich mehrere Stunden mit ihm ein. Dann schleiften sie den lautstark Protestierenden auf den Hof vor den somatischen Abteilungen und hängten ihn auf. Nicht einmal ein Erschießungskommando hatten sie ihm gegönnt. Er hatte sich acht Jahre lang nichts zu Schulden kommen lassen. Sein einziges Vergehen hatte darin bestanden, dass ihm Arno von der Leyen entwischt war und dass er diese Katastrophe nicht umgehend nach Berlin rapportiert hatte.
Kröner und Peter Stich erholten sich relativ schnell. Schon um den Jahreswechsel herum wurden sie wieder für diensttauglich erklärt und entlassen. Gerhart Peuckert dagegen hatte lange Zeit auf gar nichts mehr reagiert.
Ihn hatten sie unbesorgt zurückgelassen.
Die Kämpfe an den Fronten wurden zunehmend verbissener. Kröner befand sich in
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