Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
bleiben, dass niemand Verdacht schöpfte. Bryan betrachtete die ausdruckslosen Gesichter der Krankenschwestern. Was, wenn sie dasselbe Spiel auch mit ihm machten? Würde er unbeweglich liegen bleiben können? Bryan bezweifelte es.
Er hatte Angst.
Als sie James übersprangen und direkt auf Bryan zusteuerten, zuckte er zusammen. Mit einem Ruck zogen sie ihm die Decke weg. Ein Griff, und er war auf den Rücken gerollt.
Die Frauen waren jung. Die Peinlichkeit wuchs ins Unermessliche, als sie ihm das Hemd hochzogen, seine Beine spreizten und ihn mit festen Bewegungen am After und unter dem Hodensack abwischten.
Das Wasser war eiskalt. Bryan zitterte und konzentrierte sich, so gut es ging, darauf, ruhig zu bleiben. Wenn sie jetzt nur keinen Verdacht schöpften. Dann war schon viel gewonnen. Halt die Arme an den Körper gepresst, dachte er, als sie ihn wieder herumrollten.
Eine der Frauen zog seine Pobacken auseinander und schlug danach auf das Laken. Die Schwestern wechselten ein paar Worte. Vielleicht wunderten sie sich, dass das Laken nicht nasser war. Eine Schwester beugte sich über ihn, und in der nächsten Sekunde spürte Bryan einen Schlag auf die Wange. Er hatte kapiert, dass er sich entspannen musste. Deshalb trafder Schlag zwar Wangenknochen und Augenbraue hart, aber er verzog keine Miene.
Dann würde er wohl auch die Nadel aushalten.
Er war mit seinen Gedanken ganz weit weg von dem Albtraum in diesem Zug, als er spürte, wie die Nadel ihm tatsächlich in die Seite gestochen wurde.
Ihm wurde kalt. Aber kein Muskel zuckte.
Ein zweiter Stich würde schwerer auszuhalten sein.
Dann begann der Zug zu schwanken. Eine enorme Erschütterung ging durch den ganzen Wagen, sodass die Betten knarrten. Vom Ende des Wagens war ein Poltern zu hören. Die beiden Frauen, die gerade an James’ Bett getreten waren, schrien auf und rannten zum anderen Ende. Der tote Soldat war auf den Boden geknallt. Bryan ließ die Hand vorsichtig zu der wunden Stelle an der Lende gleiten, wo die Schwester die Nadel eingestochen hatte.
James nebenan hatten sie das Hemd schon halb über den Kopf gezogen. Im Dunkeln lag er vollkommen still mit seinem kreidebleichen Gesicht und sah Bryan aus weit aufgerissenen Augen an.
Tonlos bewegte Bryan die Lippen und versuchte, James zu signalisieren, dass er nichts zu befürchten habe. Aber James war in seiner Angst nicht zu erreichen.
Verräterische Schweißperlen hatten sich gebildet und liefen über sein Gesicht. Die Schwestern hatten große Mühe mit dem Toten, denn der Zug ruckelte enorm. Für den Moment waren sie abgelenkt und James schnappte nach Luft.
Da durchfuhren den Wagen zwei mächtige Stöße und Bryan rutschte bis an die Bettkante vor. James zog die Beine an und klammerte sich an das Laken.
Der Zug bewegte sich nur ruckweise weiter. Bryan schob einen Arm hinüber zu James, um ihn zu beruhigen. Aber James bekam nichts mehr mit. Tief in seiner Kehle formte sich ein Schrei. Bryan, der das kommen sah, griff nach der Metallschale,die die Krankenschwestern auf der Bettkante vor James’ halb nacktem Körper zurückgelassen hatten.
Das Wasser platschte an die Wand, als Bryan ihm die Schale hart an die Schläfe schlug. Bei dem Geräusch richteten sich die Krankenschwestern auf und sahen zu ihnen hinüber, konnten aber nur noch Bryan sehen, dessen Oberkörper schlaff über die Bettkante bis fast auf den Boden hing. Auf dem Fußboden lag umgekippt die Schale.
Soweit Bryan das mitbekam, schöpften die Krankenschwestern keinerlei Verdacht, als sie James fertig machten. Leise murmelnd gingen sie ihrer Arbeit nach, keine von ihnen registrierte die fehlende Tätowierung.
Nachdem sie gegangen waren, schaute Bryan James lange an. Das verletzte Ohr und die blauen Flecken hatten das sonst so harmonische Gesicht verändert und ließen es viel älter aussehen.
Bryan seufzte.
Wenn er sich nicht irrte, befanden sie sich im fünften oder sechsten Waggon dieses endlos langen Zuges. Wenn die Umstände es erforderten, dass sie am nächsten Tag bei Tageslicht vom Zug abspringen müssten, würden also vielleicht vierzig Wagen an ihnen vorbeifahren. Da würden sie wohl kaum ungesehen davonkommen. Und wo sollten sie auch hin, Hunderte Kilometer hinter den feindlichen Linien!
Das Schlimmste war jedoch, dass sie sich nun nicht mehr zu erkennen geben konnten. Sie hätten drei Menschenleben auf dem Gewissen, würde man behaupten. Ohne korrekte Uniform würde man sie zumindest als Spione betrachten und
Weitere Kostenlose Bücher