Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Bryan zurück.
»Pssst. Wir müssen flüstern.« Bryan nickte, er hatte verstanden. »Als ich zu mir kam, warst du auch bewusstlos«, fuhr James fort. »Was ist passiert, Bryan?«
»Ich hab dich k. o. geschlagen.« Bryan versuchte, sich zu konzentrieren. »Und dann haben sie uns untersucht. Die haben mir in die Pupillen geleuchtet. Und kurz danach hab ich die Augen aufgerissen. Die wissen, dass mit mir irgendwas nicht stimmt.«
»Das dachte ich mir fast. Die haben schon mehrmals nach dir geschaut.«
»Wie lange war ich weg?«
»Jetzt hör mir mal zu, Bryan!« James zog seinen Arm zurück. »Im Wagen vor uns sind lauter Soldaten. Die sind auf dem Weg nach Hause, die haben Heimaturlaub, aber ich glaube, die sollen auch die Patienten im Auge behalten.«
»Nach Hause?«
»Ja, wir fahren tiefer nach Deutschland hinein. Wir sind den ganzen Tag gefahren. Das letzte Stück ging es nur sehr langsam. Ich habe keine Ahnung, wohin wir fahren, aber im Moment halten wir in Kulmbach.«
»Kulmbach?« Es fiel Bryan schwer, James’ Worten zu folgen. Kulmbach? Kulmbach? Der Zug hielt?
»Nördlich von Bayreuth«, flüsterte James. »Bamberg, Kulmbach, Bayreuth, das wirst du doch noch wissen?«
»Möchte wissen, was die mir gespritzt haben. Hab einen ganz trockenen Mund.«
»Versuch, dich zusammenzureißen, Bryan!«
Als James ihn wieder am Arm berührte, sperrte Bryan die Augen auf. »Was ist passiert, als die uns gewaschen haben?«
»Wie, passiert?«
»Mann, die Tätowierung! Was ist da passiert?«
»Die schauen doch nicht jedes Mal nach den Tätowierungen.« James warf den Kopf aufs Kissen und sah zur Decke. »Aber du hast Recht. Wir müssen das jetzt machen, solange wir noch was sehen können.«
»Mir ist so kalt.«
»Hier ist es ja auch scheißkalt. Die haben durchgelüftet. Bis eben war der Fußboden voller Schnee.« James deutete auf den Fußboden, ohne den Blick von der Decke abzuwenden. »Die Soldaten nebenan haben Mäntel an.«
»Hast du sie gesehen?«
»Sie kommen immer mal hier rein. Vor zwei Stunden haben sie nach dem Krankenpfleger gesucht. Die wissen auch, dass es eine Schießerei mit ein paar englischen Piloten gegeben hat. Und dass die auf den Zug aufgesprungen sind. Die Hundepatrouille muss uns angezeigt haben.«
»Scheiße.« Bryan spürte, wie ihn die Realität blitzschnell einholte.
»Die Leute hier im Zug wissen es und haben nach uns gesucht. Bisher haben sie uns nicht gefunden, und das werden sie auch nicht.«
Ohne weitere Worte setzte James sich auf und griff nach der Kanüle im linken Arm. Er schloss die Augen, zog die Nadel heraus und ließ die Tropfen der mit Blut gemischten Nährflüssigkeitaufs Laken fallen. Bryan stützte sich auf den Ellbogen und sah ihm zu. James machte einen Knoten in den Gummischlauch, damit die Flüssigkeit nicht weiter auslief. Er schob sich den Ärmel über die Schulter. Mit der Spitze der Kanüle kratzte er ein paar Fingernägel sauber und stach sich dann mit kleinen Bewegungen den Schmutz in die dünne Haut der Achselhöhle.
Schon bald sah James aus, als würde ihm übel. Er war kreidebleich, die Lippen wurden bläulich. Punkt für Punkt entstand das A+. Um es zu schreiben, waren viele Einstiche nötig.
»Verflucht, hoffentlich entzündet sich das nicht«, flüsterte Bryan und zerrte seine Kanüle aus dem Arm. »Und wenn doch, dann will ich lieber auf Nummer sicher gehen. Ich tätowiere mir meine eigene Blutgruppe, James!«
»Bist du wahnsinnig?«, protestierte James, machte aber keine Anstalten, seinen Freund umzustimmen. Er hatte mehr als genug mit sich selbst zu tun.
Aber Bryan hatte sich das reiflich überlegt. Natürlich war es riskant, B+ zu schreiben statt A+. Aber die Blutgruppenzeichen sahen sich doch so ähnlich, da konnte beim Anlegen des Krankenblattes ohne Weiteres ein Fehler passiert sein. Wenn tatsächlich jemand das Krankenblatt zum Vergleich heranzöge, würde er höchstens stutzen und vermutlich den Eintrag dort ändern. Da war sich Bryan eigentlich sicher.
Und dann konnten sie gefahrlos Blut in ihn hineinpumpen. Dass man unter Umständen gar nicht in der Achselhöhle nachschauen, sondern sich nur ans Krankenblatt halten würde, den Gedanken schob Bryan lieber weit von sich. Dann fing er an, sich mit der Kanüle die Nägel sauber zu machen.
Das Tätowieren ging schrecklich langsam vonstatten.
Zweimal wurden sie durch Geräusche aus dem Wagen vor ihnen unterbrochen. Beim zweiten Mal versteckte Bryan intuitiv die Kanüle unter der Decke.
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