Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
du denn nicht einfach bei Stich oder Kröner angerufen?« Lankau betrachtete sie sehr genau. Ihr Hals war äußerst schlank, wie ihm auffiel. Die Adern zeichneten sich deutlich ab. »Sie hätten dir sagen können, was auf dem Schlossberg passiert ist.«
»Habe ich ja versucht. Ich habe dir doch gerade gesagt, dass keiner von ihnen zu Hause war. Bei Stich ging Andrea ans Telefon, die hat überhaupt nichts gesagt. Kennst sie ja.« Sie ließ den Blick über die Wände und die Trophäen wandern. Lankau hatte dafür gesorgt, dass alles ganz normal aussah, bis auf einen unordentlichen Haufen Brennholz neben dem Ofen. Der hätte Petra auffallen können, genauso wie das Fehlen von Lankaus großem Eichenholz-Stuhl. In Einzelteile zerlegt nahm er deutlich weniger Raum ein. »Aber wo sind Stich und Kröner denn dann?«, fragte sie schließlich. »Weißt du das?«
»Nein.«
Petra breitete die Arme aus, sah zu der hochgewachsenen Frau, dann wieder zu Lankau und lächelte. »Was für eine Erleichterung. Danke. Dann brauche ich mir zumindest wegen Arno von der Leyen keine Gedanken mehr zu machen. Würdest du uns bitte ein Taxi rufen, Horst? Wir haben unseres eben wieder nach Freiburg geschickt.«
»Selbstverständlich.« Der Breitgesichtige erhob sich leise stöhnend. Ganz gleich, wie die Dinge sich entwickeln würden – es gab da eine unbekannte Größe zu viel in diesem Spiel. Die Taubstumme würde sicher vermisst werden, wenn er sie beide eliminierte. Vielleicht hatte sie ja Familie. Die Gelegenheit war mehr als günstig, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zurückzuhalten. Gerhart Peuckert und Petra Wagner konnte er im Notfall auch später noch beseitigen. Eine tragische kleine Geschichte – das würdige Ende einer hoffnungslosen Liebe – Romeo und Julia in unserer kalten, herzlosen Zeit. Aber die Geschichte war noch nicht zu Ende. Die Taubstumme hatte in dem letzten Kapitel nämlich nichts zu suchen. Er musste die beiden wohl oder übel ziehen lassen.
»Wo ist eigentlich dein Auto, Horst? Wie bist du hierher gekommen?«, fragte Petra ungewohnt direkt.
Eine ganz einfache Frage. Lankau hätte einfach lächeln und »Genau wie ihr, liebe Petra!« antworten können. Doch er war einen kurzen Moment verwirrt, fühlte sich durchschaut und zögerte mit der Antwort. Ungläubig sah er die zierliche Frau an und legte den Hörer zurück auf die Gabel.
»Du stellst viele Fragen, Petra.« Sie fixierten einander, dann lächelte sie und zuckte verlegen mit den Achseln. »Dabei hätte ich viel lieber mal ein paar Antworten von dir«, fuhr er fort. Die hochgewachsene Frau hinter Petra wich zurück, als sie seinen finsteren Blick sah. »Warum behauptest du, dass du mir von der Frau da erzählt hast? Das stimmt doch gar nicht.« Er machte einen schnellen Schritt auf Petra zu, deren Miene sich sofort veränderte. »Ist sie wirklich taub? Ich meine nämlich,gesehen zu haben, wie du in ihre Richtung den Finger vor den Mund gelegt hast, als ihr hereinkamt.« Er machte einen letzten Schritt auf sie zu. Leicht wie eine Feder ließ sie sich beiseiteschieben. Die stumme Frau hielt sich schützend die Arme und die Handtasche vors Gesicht. Vergebens. Eine einzige Ohrfeige reichte, um sie wortlos zu Boden gehen zu lassen.
Bewusstlos blieb sie liegen.
»Wo willst du hin?« Noch bevor Petra die Tür erreicht hatte, schlossen sich seine Finger eisern um ihr Handgelenk.
»Was tust du da, Horst? Was ist denn mit dir los?« Sie wollte sich losreißen. »Lass mich los und beruhige dich!« Er ließ sie los und schob sie hinüber zu der am Boden liegenden Frau.
»Wer ist das?«, fragte er und zeigte auf Laureen.
»Laura. Also, wir nennen sie Laura, aber eigentlich heißt sie Laureen.«
»Gib mir ihre Tasche.«
Petra seufzte und entwand die Tasche Laureens schlaffen Armen. Lankau fand, die Tasche war schwerer, als sie in den Händen der zierlichen Petra gewirkt hatte.
Er breitete den üppigen Inhalt der Tasche auf der Anrichte neben der Tür aus. Zielstrebig fischte er eine vielversprechend dicke, rotbraune Brieftasche aus dem Durcheinander.
Lankau blätterte sich durch die vielen bunten Kreditkarten. Es stimmte, dass die Frau Laureen hieß. Laureen Underwood Scott. Ausgiebig studierte Lankau Namen und Anschrift. Weder das eine noch das andere sagte ihm etwas.
»Deine Freundin ist Engländerin.« Lankau winkte mit einer Kreditkarte.
»Sie wohnt aber hier in Freiburg. Ist englischer Abstammung und mit einem Engländer
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