Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
verheiratet.«
»Unglaublich, heute wimmelt es ja geradezu vor Engländern, findest du nicht?«
»Sie ist keine Engländerin, habe ich doch gerade gesagt!«
Lankau kippte das Portemonnaie aus. Zwischen den vielenQuittungen fand er ein Passfoto. Petra hielt die Luft an. »Sieht aus, als hätte sie eine Tochter«, bemerkte er. »Du weißt doch bestimmt, wie sie heißt?«
»Sie heißt Ann.«
Lankau studierte kurz die Rückseite des Fotos, brummte etwas und stellte sich dann unter die Deckenlampe im Flur, um sich das Bild etwas eingehender anzusehen. »Und woher kennst du diese Laureen? Und wieso hast du sie hierher mitgenommen?« Unvermittelt drehte er sich zu Petra um und packte sie grob bei den Oberarmen.
»Wer ist sie, Petra? Was hat sie mit Arno von der Leyen zu tun?« Sein Griff wurde noch fester. Petra stöhnte auf vor Schmerz.
»Lass mich los!« Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten, und sah ihn trotzig an. »Nichts, verdammt noch mal! Und jetzt lass mich los!«
Es war ein ungleicher Kampf gewesen. Der kräftige Mann strich sich über den Nacken und streckte den Hals. Er kannte das unangenehme Gefühl vom Golf, wenn er schief abgeschlagen hatte. Das machte sich immer direkt in der Nackenmuskulatur bemerkbar. Aber die Schmerzen würden binnen weniger Stunden verschwinden. Der Widerstand, mit dem die zierliche Petra Wagner seine Schläge abzuwehren versucht hatte, war nicht der Rede wert gewesen.
Er hätte genauso gut ins Leere schlagen können.
Die hochgewachsene, stumme Frau fesselte er an einen Stuhl, nicht unähnlich dem, auf dem er selbst festgebunden gewesen war, und platzierte sie genau da, wo von der Leyen ihn zurückgelassen hatte. Er zurrte die Schnur um ihre Fußgelenke sehr fest, doch sie rührte sich nicht.
Sie war noch immer bewusstlos.
Er lud sich die benommene Petra auf die Schulter. Auf dem Weg nach draußen legte er im Hauswirtschaftsraum denHauptschalter für das Nebengebäude um. Die Lampe im Hof erlosch, sodass nun der Sternenhimmel über ihnen zu sehen war.
In der Mitte des Nebengebäudes stand sein ganzer Stolz. Zweihundert Flaschen guten Weißwein im Jahr, mehr ergab seine Ernte nie. Aber letztes Jahr hatte er in einem Anfall von Habsucht eine Traubenmühle angeschafft, die eines deutlich größeren Weingutes würdig wäre. In wenigen Wochen würde sie wieder gereinigt und in Betrieb genommen werden. Doch zuvor eignete sie sich hervorragend, um Petra, die noch immer nicht wieder richtig zu sich gekommen war, daran festzubinden. Lankau zupfte an dem Tuch, mit dem er ihr den Mund zugebunden hatte. Es saß ziemlich stramm.
»Wenn du einfach ganz ruhig liegen bleibst, wird es schon gehen«, sagte er und schlug mehrfach auf die gewaltige, waagerechte Schraube, auf der Petra nun lag. Sie wusste sicher, wozu diese Schraube diente – das wusste in einer Weingegend wie dieser jedes Kind. Die Schraube riss die Trauben an sich und presste sie bis auf den letzten Tropfen aus. »Dann verletzt du dich auch nicht an den scharfen Schraubenkanten, Petralein.« Und dann hob er die Hand und zog zu ihrem Entsetzen an einem Relais. Sie schloss die Augen. »Nun mal keine Panik, Petralein. Solange der Hauptschalter ausgeschaltet ist, passiert dir gar nichts. In ein paar Stunden ist alles überstanden. Fürs Erste liegst du perfekt hier. Und dann werden wir weitersehen.«
Auf dem Weg zurück zum Haus sog Lankau die kühle Nachtluft tief ein. Jetzt würde es hoffentlich bald Herbst werden.
Vor gerade mal zwei Stunden hatte er gute Lust gehabt, noch ein bis zwei Bockgeweihe an der Wand aufzuhängen.
57
DIE ERKENNTNIS WAR FÜR ihn ein Schock: Laureen befand sich in Freiburg.
Im Bruchteil einer Sekunde war er wieder in der grausamen Wirklichkeit angekommen. Bryan holte tief Luft und gab Gas. Ab sofort musste er vom Schlimmsten ausgehen. Sein Entschluss, die Ereignisse in Freiburg einfach hinter sich zu lassen und in sein altes Leben zurückzukehren, war hinfällig – offenbar wollte das Schicksal es anders. Was er eben von Bridget erfahren hatte, ließ ihn frösteln.
Schrecklich. Von nun an waren nicht mehr nur er und die Männer, die ihn jahrzehntelang bis in seine Träume verfolgt hatten, in die Geschichte verwickelt, sondern auch das unbeholfenste und wehrloseste Wesen, das er sich vorstellen konnte. Und zu allem Überfluss war aus der absurden Situation blutiger Ernst geworden. Er hätte Laureen Bescheid sagen müssen. Das schlechte Gewissen brannte unter seiner Haut. Wenn ihr
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