Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
lächelnd in der Gewissheit, ihren Dienst am Vaterland bereits geleistet zu haben und sich nunmehr in Sicherheit zu befinden.
Die dunklen Fichten hinter ihrem Gebäudeblock wiegten sich schwach im Wind. Von der Kälte und dem wenige hundert Meter langen Weg hinüber zum Gebäude schmerzten Bryan alle Gelenke. Pass auf dich auf, dachte Bryan, und sieh zu, dass du nicht krank wirst.
Er hatte seinen möglichen Fluchtweg gesehen. Wenn er krank würde, kämen James und er nicht vor der nächsten Behandlungsseriemit Elektroschocks weg. Also galt es, gründlich und schnell nachzudenken. Und dann musste James in die Pläne eingeweiht werden, ob er wollte oder nicht. Ohne James konnte er nicht vernünftig planen.
Und schon gar nicht fliehen.
11
JEDES MAL, NACHDEM er die Elektroschocks bekommen hatte, ging es James elend, wenn er wieder zu sich kam. Vor allem war er vollkommen entkräftet. Sein Körper arbeitete bis in die letzte Faser auf Sparflamme. Sämtliche Sinne waren abgestumpft und verschwammen. Genau wie seine Gefühle. Rührung, Sentimentalität, Selbstmitleid und Verwirrtheit, alles war durcheinandergewirbelt und versetzte ihn chronisch in eine von Angst und Trauer geprägte Stimmung.
Dass Angst ein schlechter Berater war, wusste James schon lange, und darum hatte er gelernt, mit ihr zu leben und sie unter Kontrolle zu halten. Als das Kriegsgeschehen näher rückte und sie in ihrem Lazarett das entfernte Dröhnen der Bomben hören konnten, da erwachte in ihm eine leise Hoffnung, der Albtraum möge einmal ein Ende haben. Wenn es irgend ging, bemühte er sich, wachsam und aufmerksam die Stunden zu genießen. Er lag ganz still in seinem Bett, betrachtete das Leben um sich herum oder träumte sich weit weg.
Er hatte in den zurückliegenden Monaten gelernt, sich ganz in seine Rolle einzuleben. Niemand würde ihn mehr verdächtigen zu simulieren. Man konnte ihn jederzeit aus seinem Dämmerzustand wecken – er reagierte stets mit leerem Blick. Den Krankenschwestern machte er nicht viel Mühe, denn er aß, was er sollte, er beschmutzte das Bett nicht, und vor allem: Er nahm widerstandslos seine Medikamente ein. Was einerseits ewige Trägheit und Denken im Zeitlupentempo zur Folge hatte, ihm andererseits aber auch eine gewisse Gleichgültigkeit bescherte.
Die Tabletten waren äußerst wirksam.
Am Anfang hatte er nur genickt, wenn er beim Assistenzarzt war und der die Stimme hob. Nie hatte er ohne Befehl eine Bewegung gemacht. Manchmal hatte die Oberschwester bei der Visite laut aus der vergilbten Krankenakte vorgelesen. Auf diese Weise lernte James Stück für Stück die Lebensgeschichte des Fremden kennen, in dessen Identität er geschlüpft war. Die Krankenschwester verstand es, nüchterne biographische Daten mit dem zu kombinieren, was sie über Peuckerts Vergangenheit gehört hatte. Sollte James jemals ein schlechtes Gewissen geplagt haben, weil er die Leiche aus dem Zug geworfen hatte, so wäre damit in dem Moment Schluss gewesen, als er das Wesen seines Retters kennenlernte.
James und Gerhart Peuckert, wie der verstorbene S S-Of fizier hieß, waren fast gleichaltrig. Der Deutsche hatte eine unglaubliche und schnelle Karriere hingelegt. Er war zum Zeitpunkt seines Todes Standartenführer bei der Sicherheitspolizei der SS, eine Art Oberst, gewesen. Deshalb hatte er im Krankensaal den höchsten Rang – abgesehen von diesem Arno von der Leyen, dessen Identität Bryan angenommen hatte. Peuckert schien in der Abteilung einen Sonderstatus innezuhaben. Manches Mal, wenn sie alle auf ihren Betten saßen und die anderen ihn kalt anstarrten, hatte James den Eindruck, als hätten sie Angst vor ihm oder als hassten sie ihn sogar.
Die Krankenschwester erging sich förmlich in der Schilderung von Peuckerts ehemals sadistischem Wesen. Der Mann hatte offenbar keine Sünde ausgelassen. Gerhart Peuckert hatte in allen Zusammenhängen rücksichtslos jedes Hindernis, das sich ihm in den Weg stellte, entfernt und gnadenlos jeden abgestraft, der ihm missfiel. Die Ostfront hatte ihm da gut in den Kram gepasst. Schließlich waren einige Untergebene durchgedreht und hatten ihn in demselben Bottich zu ertränken versucht, den er benutzt hatte, wenn er eigenhändig sowjetische Partisanen oder Zivilisten, die Ärger machten, folterte.
Das war der Grund, weshalb er lange in einem Feldlazarettim Koma gelegen hatte. Niemand hatte erwartet, dass er sich erholen würde.
Mit den Attentätern wurde kurzer Prozess gemacht – eine
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