Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus

Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus

Titel: Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
Vom Netzwerk:
Westen zu, erkannte er noch ein Tor. Links und rechts standen Wachtposten in Habachtstellung, den Arm zum Hitlergruß erhoben. Sie schauten zum Appellplatz hinüber.
    Dann stimmten alle zusammen begeistert das Horst-Wessel-Lied an.
    Von den Geisteskranken sang niemand mit, sie standen nur da und sahen sich verwirrt um. Das Echo und die Kraft der vielen Stimmen füllten den Platz. Bryan war angesichts der grotesken Schönheit des Auftritts wie versteinert. Aber warum man alle hier versammelt und warum man sie sogar außer der Reihe rasiert hatte, begriff er erst, als jemand das Porträt des Führers enthüllte. Bryan schloss die Augen und sah den Zettel über dem Bett des Kalendermanns vor sich. Gestern war der 19.   April, dann war heute also der 20., Hitlers Geburtstag.
    Die Offiziere hatten ihre Mützen unter den an den Körper gepressten linken Arm geschoben. Ungeachtet ihrer Verwundungen standen sie aufrecht und sahen voller Respekt zum Porträt auf. Was war das doch für ein Kontrast zu den Karikaturen von Hitler, die bei der Royal Air Force jede Mannschaftsbaracke zierten   – übermalte, von Dartpfeilen durchbohrte oder mit Schimpfwörtern beschmierte Adolf-Gesichter.
    Einige der Krieger wirkten wie in einem Glücksrausch, alssie   – die Augen vor dem Morgenlicht abschirmend   – zur Flagge aufschauten.
    Unterdessen nutzte Bryan die Gelegenheit und sah sich gründlich die Umgebung hinter ihnen an. Hinter dem Stacheldrahtzaun auf dieser Längsseite gab es einen weiteren Zaun. Ein wenig effektiver Schutz aus rohen Latten, mit Stacheldraht verflochten. Der Schotterweg, den sie seinerzeit heraufgefahren waren, führte ein kurzes Stück entlang des Lattenzauns und vermutlich über die Felsen und ins Gebirge. Bryan drehte den Kopf ein kleines Stück nach Westen zu den Wachtposten, die nun zusammenstanden und sich unterhielten.
    In diese Richtung würde er flüchten. Über den ersten Zaun und unter dem nächsten hindurch, an der Straße und dem kleinen Bach entlang, hinunter ins Flachland und hinüber zur Bahnstrecke, die am Rhein entlang bis nach Basel führte.
    Wenn er den Schienen südwärts folgte, würde er früher oder später zur Schweizer Grenze kommen.
    Wie er die überwinden könnte, würde er schon noch herausfinden.
    So etwas wie ein siebter Sinn veranlasste ihn wohl, den Kopf zur anderen Seite umzudrehen. Der Pockennarbige sah ihn direkt an, aber als Bryan ihm das Gesicht zuwandte, senkte der Riese sofort den Blick. Dennoch war Bryan nicht entgangen, wie wach und aufmerksam der Mann gewesen war. Er würde diesen Kerl unbedingt und natürlich so diskret wie nur möglich im Auge behalten müssen. Jetzt sah er aber erst mal wieder hinüber zum Zaun.
    Er glaubte nicht, dass der zu hoch war.
    Wenn sich der Fahnenmast am untersten Bolzen umkippen ließe, könnte man ihn wie eine Brücke über den Zaun legen. Da fielen Bryan die Rostflecke auf den Schraubenmuttern des Bolzens auf. Natürlich. Er würde einen Schraubenschlüssel brauchen. Ohne den ging es nicht. Wieder einmal scheiterte die Umsetzung eines Vorhabens an einer lächerlichen Kleinigkeit.Wieder einmal war ein scheinbar unbedeutendes Detail für den Fortgang der Dinge von entscheidender Bedeutung: Die zufällige Begegnung mit einem Menschen, der dann der zukünftige Partner wurde. Sätze aus der Kindheit, die sich unerwartet ins Bewusstsein schoben. Ein günstiger Moment, in dem einem das Glück lachte. Aus allen möglichen Zusammenhängen gerissene Bruchstücke hatten Einfluss auf die Zukunft, blieben aber immer zufällig und unvorhersehbar.
    So wie dieser Rostfleck auf dem Bolzen.
    Ihm würde also nichts anderes übrig bleiben, als über den Zaun zu klettern. Er musste damit rechnen, sich an dem Stacheldraht zu verletzen. Dann waren da noch die Wachtposten. Denn unbeobachtet über den Zaun zu klettern, war das eine. Anschließend unbeobachtet davonzukommen, war dann noch mal etwas ganz anderes. Eine zufällige Maschinengewehrsalve ins Dunkel hinein gefeuert, und es war aus. Wieder spielte der Zufall die Hauptrolle. Ausschalten konnte er ihn nicht, aber er durfte sich auch nicht von der Angst davor beherrschen lassen.
     
    Die Zeremonie endete mit einer kurzen Ansprache des befehlshabenden Sicherheitsoffiziers. So viel Begeisterung hätte Bryan dieser blutleeren Figur gar nicht zugetraut. Darauf folgten nicht enden wollende Heil-Rufe. Dann wurden die Verwundeten in den Krankenbetten und die in den Rollstühlen wieder weggebracht, selig

Weitere Kostenlose Bücher