Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Tonfall, und mit seinem Lächeln und dem freundlichen Plaudern erschreckte er Bryan zutiefst. Nimm dich in Acht, dass du nichts verrätst, impfte er sich ein, wenn er den Atem des Riesen über seinem Gesicht spürte. Reiß dich zusammen!, schimpfte Bryan mit sich und kämpfte gegen die Mattigkeit an.
Seit den Bombenangriffen auf Freiburg hatte sich die Stimmung im Lazarett verändert. Von den jungen Krankenpflegern waren etliche an die Front oder zum Wiederaufbau in den Ortschaften ringsum abkommandiert worden. Auf den Stationen hatte nun noch weniger Personal noch mehr Menschen zu versorgen, denn die Anzahl der Verwundeten, die eingeliefert wurden, überstieg die Zahl derjenigen, die das Lazarett verließen. Man war gezwungen gewesen, die Turnhalle zum Notlazarett umzufunktionieren. Unter Umständen war es nur eine Frage der Zeit, bis auch das Alphabethaus an der Reihe war. Die akut Verwundeten hatten immer Vorrang.
Dem Personal stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Viele hatten bei den Bombenangriffen Angehörige verloren. Schwester Petra bekreuzigte sich fünfzehnmal am Tag und hatte nur noch selten ein Wort oder Lächeln für andere übrig. Außer für James.
Alle taten nur noch, was sie tun mussten.
17
EINE FOLGE DER Elektroschockbehandlung war die Mundtrockenheit. Schwer ließ Bryan den Kopf auf das frisch bezogene Kopfkissen sinken.
Drüben vom Bett des mageren siamesischen Zwillings war ein ärgerlicher Ausruf zu hören, und Bryan hob den Kopf. Der Pockennarbige hatte dem Mann Wasser geben wollen, aber der Magere konnte nicht ausstehen, dass man sein Bett berührte, und wollte die Berührung abwehren. Nur sein siamesischer Gegenpart durfte sich so etwas erlauben. Matt betrachtete Bryan die Szene, und als er das Wasserglas sah, das der Pockennarbige gegen die zusammengepressten Lippen des Mageren drückte, versuchte er, wiederum zu schlucken. Dann hob er den Arm und winkte, bis der Riese sich ihm endlich zuwandte. Breit lächelnd stolzierte er mit ausgestrecktem Arm zu Bryan hinüber und reichte ihm das Glas.
Das Wasser tat gut. Der Riese sah zu, wie Bryan das Glas gierig leerte. Er wollte es gleich noch einmal füllen. Als er sich umdrehte, stieß er gegen das Bettgestell. Die Tabletten im Bettpfosten rasselten so laut, dass Bryan das Gefühl hatte, nun müssten ihn alle anklagend anschauen. Sofort war sein Mund wieder staubtrocken. Der Pockennarbige wandte sich ihm ganz langsam zu, dabei stieß er mit dem Knie leicht an den Bettpfosten. Aber es blieb still. Bryan bekam einen Hustenanfall, sodass der Krankenpfleger, der am Bett des Kalendermannes stand, schnell kam und ihm auf den Rücken klopfte. Der Pockennarbige blieb noch einen Moment stehen und sah zu. Auf Verlangen des Krankenpflegers holte er schließlich noch ein Glas Wasser.
Auch wenn Bryan vermutete, dass die Tabletten nun aufden Boden des Pfostens gerutscht waren und kaum mehr Geräusche verursachen würden, wagte er sich an dem Tag kaum noch zu rühren.
Offenbar hatte der Riese als Einziger etwas gehört.
Gegen Mitternacht zogen Wolken vor den Mond, und Bryan wollte nun unbedingt die Tabletten wegschaffen. In dieser Nacht bewegte sich in der Krankenstube niemand, nicht einmal Schatten an der Schwingtür.
Als er davon überzeugt war, als Einziger noch wach zu sein, stand er auf und hob den rechten Bettpfosten am Kopfende an. Der Pfropfen, mit dem er am Boden verschlossen war, steckte dort fest, seit ihn der Hersteller eingesetzt hatte. Bryan musste ihn mühsam abwechselnd mit der rechten und der linken Hand drehen. Er gab sich alle Mühe, nicht zu stöhnen.
Als sich der Pfropfen schließlich löste, war Bryan so erschöpft, dass er seinen Erfolg gar nicht genießen konnte.
Aber Sekundenbruchteile später erkannte er die Katastrophe und fasste unter die Öffnung des Rohrs, aus der sich die Tabletten ergossen. Ein paar rollten zur Seite.
Eine landete im Mittelgang, andere rollten unter die Betten. Bryan lockerte vorsichtig seine Hand, bis die restlichen Tabletten herausgerutscht waren und einen kleinen Haufen bildeten, den er einfach aufheben konnte. Er hielt sein Hemd auf und kroch auf allen vieren auf dem Fußboden herum und sammelte fieberhaft die weißen Teufelsdinger ein. Als er überzeugt war, dass er alle erwischt hatte, drehte er sich um und presste den Pfropfen so fest er konnte wieder in die Öffnung. Da riss die Wolkendecke auf und das Mondlicht erhellte ohne Vorwarnung den ganzen Raum. Hinter den Bettpfosten auf der
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