Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Schwingtür aufstieß. Immer wieder fielen die Wörter »Hitler« und »Wolfsschanze«.
Bryan sah ihr nach, wie sie den Mittelgang hinunterlief, vorbei an Petra, die sich bekreuzigte, und an Vonnegut, der nur gaffte. Bryan hoffte, ihr Geschrei möge bedeuten, dass Hitler tot war. Dr. Holst hörte ihr zu, aber ihr Stammeln und ihre Aufregung schienen auf ihn keinen großen Eindruck zu machen. James saß ausnahmsweise einmal aufrecht im Bett und folgte dem Auftritt mit etwas zu lebhaftem Blick. Im Nachbarbett saß der Pockennarbige und beobachtete James.
Dann machte Dr. Holst plötzlich kehrt, wandte sich den Betten hinter sich zu und überließ die Krankenschwester, Hitler und die Wolfsschanze sich selbst. Für ihn standen die Patienten und die tägliche Arbeit im Lazarett an erster Stelle. Bryan beobachtete, wie James von dem abrupten Ende der Informationen so überrascht wurde, dass er nur mit Mühe in seine antrainierte Apathie zurückfiel. Der Pockennarbige hingegen lächelte stumpf vor sich hin und hob die Bettdecke an, als Dr. Holst an sein Bett trat.
Alle wirkten wie elektrisiert, die Stimmung war umgeschlagen, irgendetwas Gravierendes musste geschehen sein, das war deutlich zu spüren, denn zum ersten Mal seit Wochen zeigte sich auch ein Sicherheitsoffizier auf der Station.
Bryan hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Fast noch ein Junge, schätzte Bryan, kaum so alt wie er selbst. Während der Jüngling die Reihen der Betten abschritt, grüßte er jeden kurz mit angedeutetem Hitlergruß. Wenn der Gruß erwidert wurde, nickte er. Er sah jedem einzelnen Patienten in die Augen. Auch den hinteren Korridor, der zu den Toiletten und dem Bad führte, schritt er langsam ab, stieß die Türen auf, sodass sie gegen die Wände knallten. Doch die Anwesenheit des Schwarzgekleideten schien auf niemanden Eindruck zu machen. Selbst die Simulanten sahen ihm beim Grüßen unbewegt ins Gesicht.Der Breitgesichtige lächelte noch etwas breiter als sonst und erwiderte den Hitlergruß so energisch, dass alle zusammenzuckten.
Sein schmächtiger Kumpan im Nachbarbett reagierte gedämpfter. Zwar lächelte auch er, aber er hob den Arm nur halb zum Gruß. Dabei rutschte die Decke halb auf den Fußboden – und genau dort, unter dem Bett, lag die Tablette, die Bryan beim Zusammenstoß mit dem Pockennarbigen verloren hatte. Bryan sah sie sofort und versuchte krampfhaft, seine Angst zu verbergen.
Falls der Sicherheitsoffizier die Tablette fand, wüsste er noch nicht automatisch, woher sie kam. Aber was würde der Simulant nebenan sagen, wenn man ihm nur entsprechend zusetzte? Und der Pockennarbige, was würde er aus den Ereignissen der vergangenen Nacht ableiten? Bryan brauchte nur eine Sekunde, um sich darüber im Klaren zu sein, dass ihn diese unscheinbare Tablette seinem Verderben um ein Vielfaches näher gebracht hatte. Irgendwann würde jemand die Tablette aufheben, aber nicht er. Unter keinen Umständen würde er noch einmal einen Versuch wagen.
Der Mann neben dem mageren Simulanten hatte starke Verbrennungen im Gesicht. Er gehörte zu denen, die bereits hier im Raum gelegen hatten, als sie ankamen. Inzwischen hatte die vernarbte Haut langsam begonnen, eine normalere Farbe anzunehmen. Er war einer von vielen, die in einem brennenden Panzer eingeschlossen gewesen waren – und einer der wenigen, die das überlebt hatten. Ein Überleben, das ihn stumm gemacht und vollständig verwirrt hatte. Der Sicherheitsoffizier blickte auf den Arm des Mannes mit den Brandnarben, der sich zum Hitlergruß heben wollte, und trat zwischen die Betten, um ihm zu helfen.
Bei dem Schritt nach vorn stieß der Offizier mit der Schuhspitze gegen die Tablette, sodass sie gegen die Außenwand rutschte, abprallte und quer durch den Raum schoss. Die Gefahrschien abgewendet zu sein und vor Erleichterung schnappte Bryan unhörbar nach Luft.
Zwei Minuten später hatte der Offizier fast die Tür erreicht, da trat er auf die Tablette. Das Knirschen war kaum zu hören, aber er blieb stehen.
Auf sein Rufen hin kam eine der Krankenschwestern angerannt. Ein Knie am Boden, rührte er mit dem Finger vorsichtig in dem weißen Pulver. Dann streckte er ihr die Fingerspitze mit dem Pulver entgegen, sie sollte daran lecken. So wie Bryan ihre Miene interpretierte, wollte sie den Vorfall bagatellisieren und natürlich ihre Unschuld beteuern. Denn der junge Sicherheitsoffizier stellte ihr einige Fragen, auf die sie jedes Mal den Kopf schüttelte. Aber ihre
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