Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Kriegsneurotiker. Was hat das mit uns zu tun?«
»Das hat mit uns insofern zu tun, Herr Dr. Holst, als unsere Ergebnisse als unbefriedigend bewertet werden, wenn wir nicht wie sie vorgehen. Und dann wird man uns bitten, den Übrigen die Spritze zu geben oder eine Überdosis von Ihren geliebten Chloralen, Trionalen und Veronalen, Herr Doktor. Und anschließend können wir uns selbst an die Front melden, nicht wahr?« Professor Thieringer sah seinem Assistenzarzt in die Augen. »Sind Sie sich darüber im Klaren, Herr Dr. Holst, wie privilegiert wir sind? Hätte Dr. Goebbels’ Ehefrau nicht an ihren Mann appelliert, dass die Lazarette generell ihre Verwundeten besser behandeln müssten, dann bestünde unsere Aufgabe heute darin, Geistesgestörte zu liquidieren. Tötungaus Mitleid, nicht wahr? Todesursache Influenza, können Sie das vor sich sehen? Bisher sind es immerhin nur die wenigen Schreihälse im Keller, die uns vor dieses Problem stellen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, wir tun, was von uns erwartet wird. Wir werden die Patienten jetzt nach und nach entlassen. Und es ist Schluss mit den Experimenten im Alphabethaus, Herr Dr. Holst. Schluss mit Ihren Chlorpräparat-Versuchen. Schluss mit Ihren Messungen zu Forschungszwecken bei der Behandlung mit verschiedenartigen Elektrostößen. Schluss mit unserem doch recht komfortablen Leben hier!«
Dr. Holst sah zu Boden.
»Ja, wir hatten Glück, dass Frau Goebbels ihren Mann davon überzeugte, die Hand über unsere Elitesoldaten zu halten. Dadurch konnten wir immerhin eine Weile mit ihnen arbeiten, nicht wahr? Und wir konnten daran mitwirken, für das deutsche Volk die Illusion von der Unfehlbarkeit des stolzen S S-Korps aufrechtzuerhalten!«
Thieringer sah hinüber zu Petra und den anderen Krankenschwestern der Abteilung. Bisher hatte er sie kaum eines Blickes gewürdigt. Mit diesem Blick nun bat er sie, die letzten Bemerkungen überhört zu haben. Er griff nach einem Stoß Krankenakten.
»Für uns bedeutet das, die Dosen auf Station IX zu verringern. Ab heute keine Insulintherapie mehr. Wilfried Kröner und Dieter Schmidt nehmen wir noch vor Dezember aus der Chemo-Psychotherapie. Werner Fricke können wir, glaube ich, bald aufgeben. Er kommt wohl nicht mehr zu Verstand. Stammt er nicht aus einer wohlhabenden Familie?«
Niemand antwortete. Der Oberarzt blätterte weiter in den Akten.
»Gerhard Peuckert müssen wir noch etwas beobachten. Aber er scheint sich zu erholen.«
Petra ballte die Hände.
»Und dann ist da noch Arno von der Leyen«, fuhr Thieringerfort. »Man hat uns informiert, dass er zu Weihnachten wichtigen Besuch aus Berlin erhalten wird. Wir müssen alles dafür tun, dass bald eine Besserung seines Zustands eintritt. Er soll versucht haben, sich das Leben zu nehmen, habe ich gerüchteweise gehört. Kann das jemand bestätigen?«
Die Krankenschwestern sahen sich an und schüttelten wortlos den Kopf.
»Das darf unter keinen Umständen geschehen. Mir sind zwei Patienten bewilligt worden, die in der somatischen Abteilung kurz vor der Entlassung stehen und zur Nachbehandlung hierher kommen sollen. Sie könnten Wache stehen und garantieren, dass sich so etwas nicht wiederholt. Wir können sie drei Monate hierbehalten. Das sollte doch reichen, was meinen Sie?«
»Stehen die dann Tag und Nacht als Wachen zur Verfügung?« Wie üblich wollte die Oberschwester gleich sichergehen, dass niemand aus ihrem Stab zusätzliche Nachtwachen übernehmen musste.
Thieringer schüttelte den Kopf. »Nachts schlafen Gruppenführer Devers und von der Leyen. Dafür müssen Sie Sorge tragen.«
»Wie steht es um den Patienten, mit dem von der Leyen das Zimmer teilt?«, fragte Dr. Holst unsicher.
»Devers wird sich kaum wieder erholen. Seine Lungen und sein Gehirn sind durch das Gas zu sehr geschädigt. Wir müssen unser Bestes tun, aber er wird weiterhin die volle Dosis erhalten. Er hat mächtige Freunde. Sie verstehen?«
»Ist er der Richtige? Um das Zimmer mit Arno von der Leyen zu teilen, meine ich. Also …« Dr. Holst wusste kaum, wie er sich ausdrücken sollte. Angesichts des Blickes, mit dem ihn der Oberarzt bedachte, rutschte er auf seinem Stuhl zurück. »Er liegt ja bloß da.«
»Ich finde, das passt ganz ausgezeichnet, doch, doch. Im Übrigen muss ich aufs Schärfste betonen, dass weder HorstLankau noch einer der übrigen Patienten aus Zimmer drei in dem Krankenzimmer von Arno von der Leyen und Gruppenführer Devers irgendetwas zu
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