Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
wegen ihres Charmes zu ihrer jetzigen Position gekommen sei. Petra bezweifelte das. Sie hatte an Devers’ Tasche ein Zeichen der I.G. Farben entdeckt. Petra vermutete, dass Gisela Devers mit den Besitzern verwandt war. Das würde nicht nur ihre Kleidung und die Ehe erklären, sondern auch, warum sie so unbehelligt bis in diesen Bereich hatte vordringen können.
25
AUF EINMAL HÖRTE Lankau auf, Bryan zu belästigen.
Draußen hatten die beiden Wachleute das Sagen. Warum sie dort saßen, wusste er nicht, aber der andere Patient im Zimmer war eindeutig nicht irgendwer.
Die beiden S S-Männer waren wahrscheinlich jünger als er selbst. Um auf dem Gang frische Luft zu bekommen, ließen sie mehrmals am Tag die Zimmertür weit offen stehen. Dann kam der Pockennarbige vorbei und schwatzte ein bisschen mit ihnen.
Er war sehr bemüht, umgänglich zu wirken, aber Bryan konnte er nicht täuschen. Hinter der sanften Fassade lag das Böse auf der Lauer.
Wenn er in ihrem Krankenzimmer stand, richtete er zunächst immer ein wenig das Kissen des Nachbarn und strich ihm sanft über die Wange. In der Regel drehte er sich dann kurz zu Bryan um, wobei er mit diabolischem Grinsen langsam den Zeigefinger quer über den Hals führte. Anschließend tätschelte er dem Bewusstlosen noch einmal sanft die Wange und verließ dann leise und lächelnd das Zweibettzimmer.
Wenn die Tür offen stand, warf der Schmächtige einen Blick ins Zimmer, er sah Bryan dabei direkt an. Das dauerte nur einen Augenblick, mehr gestatteten die Wachleute nicht. Sie konnten ihn und seine Art nicht leiden.
Nachts fühlte Bryan sich sehr einsam, auch wenn er froh war, dem Flüstern nicht mehr ausgesetzt zu sein. Sein Zimmernachbar brauchte nur zu stöhnen, und schon fuhr er im Bett hoch.
In der Regel legten die Schwestern Bryan seine Tablettenauf dem Nachttisch bereit. Er konnte nach Einbruch der Dunkelheit nicht zur Toilette gehen, denn die Tür zum Gang wurde abgeschlossen und im Zimmer gab es kein Waschbecken. Nachdem er zweimal vergeblich versucht hatte, die Tabletten im Nachttopf in Urin aufzulösen, gab er auch diese Methode, sie loszuwerden, auf. Nun wartete er immer so lange, bis in der Abteilung absolute Ruhe herrschte. Dann ging er zu seinem Nachbarn, zog die Maske zur Seite und drückte die Tabletten dem Mann in den Mund. Wenn Bryan ihm das Wasserglas an die Lippen hielt, hustete er ein bisschen, aber nach einer Weile setzten die Schluckbewegungen ein.
Natürlich machte sich Bryan Sorgen, ob die Doppelrationen nicht fatale Folgen haben könnten. Aber es geschah nichts. Die Atemzüge des anderen wurden nur ruhiger, fließender.
Falls die Simulanten immer noch hinter ihm her waren, würden sie wohl nachts zuschlagen. Um besser auf sich aufpassen zu können, musste Bryan deshalb die Nacht zum Tag machen und umgekehrt.
Er war fest entschlossen, Widerstand zu leisten. Schrie er nur laut genug, war das Zimmer der Wachleute nahe genug.
Er würde so laut schreien, dass die Toten und selbst sein Bettnachbar erwachen würden.
Und dann war Gisela Devers gekommen und hatte seine Ruhe unterbrochen.
Eine gefährliche, aber wunderbare Unterbrechung.
Ihre Anwesenheit weckte Erinnerungen an Familienfeste in Dover, wenn der Sommer zur Neige ging, bevor sich die Menschen wieder in alle Winde zerstreuten, um in ihre Winterdomizile zurückzukehren. Das waren die Gelegenheiten, bei denen Bryan gelernt hatte, sich am Duft der Frauen zu berauschen.
Gisela Devers war nur wenige Jahre älter als er. Sie hielt sich sehr aufrecht. Als Bryan sie zum ersten Mal sah, schloss er die Augen nicht ganz. Ihr anmutiges Profil und die weichen Löckchenim Nacken unter den hochgesteckten Haaren faszinierten ihn. Als er den milden Hauch ihres Parfums roch, regte sich in ihm zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so etwas wie sexuelles Begehren.
Sie hatte sich leicht schräg hingesetzt. Der weiche Stoff ihres Rocks schmiegte sich eng um ihre schönen Beine.
Niemand nahm von Bryan Notiz, denn erst am vierten Tag nach einer Elektroschockbehandlung war damit zu rechnen, dass er wieder wie gewohnt reagierte. So konnte er ruhig dösen und Gisela Devers betrachten.
Gegen Abend des dritten Tages begann Giselas Körper auf einmal zu zittern, als weinte sie. Sie ließ den Kopf hängen und neigte sich zum Bett ihres Mannes. Auf ihrem Schoß lag unbeachtet ein Buch.
Dann saß sie ganz still und in sich versunken da. Aber urplötzlich lachte sie los, und das Lachen erschütterte ihren
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