Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Kampfes. Die Wachen kamen wie dunkle Schatten aus dem Gang herbeigestürmt und fielen sofort über die Kämpfenden her. Der Pockennarbige und der Breitgesichtige vergaßen sich in ihrer Wut. Als der eine Wächter Bryan losriss, prasselten Lankaus Schläge weiter auf den Uniformierten nieder.
Binnen kurzer Zeit lagen Kröner und Lankau wieder still im Bett – Bryan saß schluchzend und mit ausgestreckten Beinen auf dem Fußboden. Der Rotäugige zog an seiner Klingelschnur und der Schmächtige sank seufzend zurück auf sein Kissen.
Bryan warf James einen letzten Blick zu, als er, noch immer schluchzend, rückwärts den Raum verließ. Aber James hatte sich bereits in die Decke gewickelt und auf die Seite gedreht.
Mit wenigen schnellen Schritten überquerte Bryan denGang. Kurz bevor die Krankenschwestern vom Treppenhaus kommend die Schwingtüren aufstießen, hatte Bryan die Tür hinter sich zugeknallt und sofort sein Schluchzen eingestellt. Nun befand er sich in dem mittleren Raum, in dem der rätselhafte bedeutungsvolle Patient lag.
Es war dunkel im Zimmer.
Um sich zu orientieren, blieb Bryan einen Moment ganz still stehen. Jetzt würden sie vermutlich Kröner und Lankau etwas zur Beruhigung verpassen. In den nächsten fünf bis zehn Minuten würde das Pflegepersonal auf keinen Fall James’ Krankenzimmer verlassen.
Er hörte, wie nebenan die Tür zu seinem Raum aufgestoßen wurde. Er konnte deutlich die Stimmen der Wachen hören, sie klangen erleichtert, als sie registrierten, dass Bryan bereits schlief.
Sein Bettnachbar Devers hatte sich in Bryans Bett sicherlich nicht umgedreht. Die Dosis Schlafmittel war ausreichend gewesen.
Drüben auf dem Bett zeichneten sich in der Dunkelheit langsam die Konturen eines Menschen ab, der sich aufgerichtet hatte und ihn ausdruckslos anstarrte.
Das beunruhigte Bryan. Dieser Mangel an Reaktion war unverständlich, wie so vieles auf der Station. Bryan legte den Zeigefinger vor die gespitzten Lippen und hockte sich neben den Mann. Der Kranke atmete nun tief und immer schneller, als wollte er gleich losschreien. Die Unterlippe zitterte.
Da zog Bryan das Kissen unter den Ellbogen des Mannes weg und stieß ihn zurück auf das Bett. Als Bryan das Kissen hob und es ihm auf das Gesicht presste, schien der Mann nicht einmal verblüfft zu sein.
Der Mann leistete überhaupt keinen Widerstand, er zappelte nicht einmal mit den Beinen. Der weiche hilflose Körper wirkte völlig einsam und verlassen.
Aber als sich die dünnen Arme ein kleines bisschen hoben,konnte Bryan nicht weitermachen. Er warf das Kissen zur Seite und blickte in Augen, in denen das blanke Entsetzen stand.
Irgendwie war Bryan erleichtert und strich ihm über die Wange. Als Bryan lächelte, deutete sich auch bei seinem Gegenüber ein friedvolles Lächeln an.
Auch in diesem Zimmer hing nur der obligatorische Schlafrock. Bryan zog ihn über seinen eigenen und band den Gürtel eng um den Leib. Er hätte gern Licht gemacht, um zu sehen, ob sich in dem Raum noch etwas Brauchbares für ihn befand, wagte es aber nicht.
Das Fenster öffnete sich in die falsche Richtung, sodass der direkte Weg zur Regenrinne versperrt war. Vom Bett war nur ein schwaches Glucksen zu hören, als Bryan das Fenster aushängte und vorsichtig neben dem Waschbecken hinter der Gardine absetzte.
Von dem Tumult in der Abteilung war nun nichts mehr zu bemerken, auch keine Rufe des Pflegepersonals. Vom Gang hörte er nur das gedämpfte Lachen der Wachleute. Sie hatten bewiesen, dass auf sie Verlass war …
Aller Voraussicht nach würde man seine Flucht frühestens in sieben bis acht Stunden entdecken – sofern die üblichen Abläufe eingehalten wurden.
Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da erstarrte er: Das Klappern von Schlüsseln in einer Hosentasche ließ ihn innehalten. Und noch ehe die Person die Türklinke gedrückt hatte, warf sich Bryan rückwärts in Richtung Tür. Er knickte um und der Knöchel tat höllisch weh, als sich neben ihm ein schmaler Streifen Licht in den Raum und über seine Zehen legte.
Keine zehn Zentimeter von ihm entfernt steckte einer der Wachleute sein Gesicht ins Zimmer. Das Licht hinter ihm umgab den Kopf des Mannes wie ein Heiligenschein. Die geringste Bewegung, der kleinste Laut, und Bryan wäre erledigt. Die Gestalt drüben im Bett lag sanft lächelnd unter der Decke.Die Gardine flatterte leicht. Bryan spürte den verräterischen Luftstrom und sah zu seinem Entsetzen, wie der Lichtstrahl am
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