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Das alte Kind

Das alte Kind

Titel: Das alte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoe Beck
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presste ihre Handflächen auf ihre Oberschenkel, konzentrierte sich auf den Kontakt, den ihre Füße zum Boden hatten, horchte ihrem Atem nach, wie sie es in der Therapie gelernt hatte.
    »Es verändert sich aber anders. Es wächst nicht richtig, und es sieht ganz komisch aus. Es verliert Haare, und mit der Haut stimmt etwas nicht.«
    Carla starrte das Mädchen an. »Seit zwei Monaten? Und das fällt Ihnen jetzt ein?«
    »Es geht ganz langsam. Ich mache mir Sorgen.«
    »Merkwürdiger Zeitpunkt, um sich Sorgen zu machen. Ich habe von Anfang an gesagt, dieses Kind ist nicht meine Tochter, es sieht anders aus, ja, vielleicht sieht es auch komisch aus. Sagen Sie, was wollen Sie eigentlich von mir?«
    Sally verschränkte die Arme. »Dass Sie sich das Kind ansehen.«
    »Nein.«
    »Dann bringe ich es Ihnen.«
    »Oh nein! Das werden Sie nicht tun! Sie rufen einen Arzt, und fertig.«
    »Sie wissen nicht, wovon ich spreche!«
    »Den Arzt!«, zischte Carla.
    Sally sagte etwas, das Carla nicht verstand, und drehte sich um. Ließ die Tür auf, sodass Carla aufstehen und sie selbst schließen musste. Als sie sich wieder an ihren Schreibtisch setzte, hatten sich die Seiten des Ausstellungskatalogs durch den Luftzug verschlagen. Sie starrte auf eine Grafik, auf der eine widerstrebende Frau in einem langen weißen Gewand von fratzenhaften Gestalten, die sich kaum von der umgebenden Dunkelheit abhoben, in einen Abwasserkanal gestürzt wurde. Mit den Händen stießen sie sie, mit einem Besen kehrten sie sie fort. Was hatte diese Frau getan, um den Sturz in die stinkende Brühe zu verdienen? Wahrscheinlich war sie eine Prostituierte…Oder sie würde zu einer werden. Carla sah auf die Fratzen: Dämonen, Geister, alte Frauen? Je länger sie hinsah, desto mehr Figuren traten aus der Dunkelheit hervor, um die Frau wegzustoßen. Sie grinsten, sie lachten. Während sich die Frau, der Ohnmacht nahe, einen Arm schützend über die Stirn gelegt hatte. Die andere Hand verschwand hinter ihr in der Dunkelheit, wehrte sich noch oder hatte den Widerstand gerade aufgegeben, wurde vielleicht schon festgehalten von einem der grinsenden Widersacher. Und nachdem Carla das Bild noch länger angesehen hatte, erschienen ihr die Fratzen immer menschlicher, das Gesicht der Frau immer maskenhafter.
    Sah sie sich in dieser Frau? Was hatte sie mit ihr gemein? Oh, das war einfach: Sie waren Frauen, die es nicht geben durfte. Hinkte der Vergleich? Unbedingt. Und trotzdem empfand Carla dieses Bild weit stärker als den »Untergang«. Carla riss ihren Blick von der Grafik und las den Titel: »In die Gosse!«
    Kunst war in Carlas Leben nie etwas anderes als programmatisch gewesen.

Berlin, Wien, März 1979
     
    Sally hatte den Esstisch im Salon gedeckt. Die gute Sally. Für zehn. Frederik zählte durch: er und Carla. Junior und die kleine Felicitas. Seine Eltern. Sally. Peter und Miriam, sie waren ihre Trauzeugen gewesen. Mit Peter hatte er zusammen studiert, er war jetzt Chefdirigent in Graz, seine Frau Sopranistin am selben Hause. Also ein Gedeck zu viel.
    Sally behauptete, seine Frau hätte eine Freundin eingeladen. Aber das konnte nicht sein. Davon wusste er nichts. Überhaupt, welche Freundin? Carla lebte für ihre Arbeit, sie war geschäftlich bestens vernetzt, und sie lernte ständig neue Leute kennen, von denen sie die Adressdaten sammelte wie andere Leute Briefmarken. Immer mit dem Hinweis: Man kann nie wissen, wozu sie eines Tages gut sind. Sie meinte es nicht oberflächlich, nicht herablassend, sie mochte durchaus die Leute, mit denen sie zu tun hatte. Aber sie war nicht gut im Freundschaftenschließen. Dafür brillant im Bekanntschaftenpflegen. Kein Thema gab es, zu dem sie nicht mindestens einen Bekannten hatte, den man befragen konnte. Aber eine Freundin?
    Sicher hatte Sally etwas missverstanden. Wen auch immer Carla eingeladen hatte, Freundin war das falsche Wort. Er versuchte, sich Carla vorzustellen, wie sie mit einer anderen Frau schnatternd und lachend über den Ku’damm schlenderte, die Schaufenster inspizierte und im Café Möhring einkehrte. Wie sie stundenlang am Telefon mit einer anderen Frau Problemchen bequatschte. Und was Frauen sonst noch so taten, wenn sie Freundinnen waren. Carla hatte sich nicht einmal mit anderen Müttern angefreundet, als sie Junior bekommen hatte. Obwohl es ihre erste Schwangerschaft, ihr erstes Baby war, hatte sie darauf verzichtet, andere Mütter mit Kindern in einem ähnlichen Alter zu treffen, um Erfahrungen

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