Das alte Kind
ihr Herz stillstehen. Ihr Mann folgte ihr kein halbes Jahr später. Schuldgefühle und Einsamkeit hatten ihn zum Alkoholiker gemacht. Man sammelte den größten Teil von ihm auf der Bahntrasse zwischen dem Oskar-Helene- Heim und Onkel Toms Hütte ein.
Carla hatte nicht damit gerechnet, ihre Eltern noch vor deren sechzigsten Geburtstagen zu verlieren, aber sie übernahm die Geschäfte nicht unvorbereitet, sie hatte von Anfang an mitgearbeitet und auch nie etwas anderes tun wollen. Ihr zur Seite stand Jeremy Bartram, ein junger Engländer, der in London Kunstgeschichte studiert und nach seiner Promotion als Assistent für einen leidlich bekannten Künstler gearbeitet hatte, mit dem er nach Berlin gekommen war. Jeremy hatte von Daniel Mannheimer nach kurzer Zeit schon die Leitung der Galerie übertragen bekommen. Daniel Mannheimer vertraute dem jungen Mann. Er erkannte sofort Jeremys sicheren Kunstverstand und sein untrügliches Einfühlungsvermögen in die Kundschaft. Jeremy war auch mit den Abläufen im Auktionshaus vertraut und für Carla unentbehrlich geworden.
Kunst war das, das Carla ganz gefangen nahm. Sie fand ihre eigenen Gefühlswelten von fremden Künstlern besser dargestellt, als sie sie selbst jemals äußern könnte. Worte empfand sie meist als unzulänglich. Und so ließ sie sich auch nun, in diesem Albtraum, den sie noch nicht ganz begriffen hatte, gefangen nehmen von Bildern, suchte lange in ihrem Kopf nach etwas, das zeigen würde, wie sie sich fühlte. Ihr Blick fiel auf einen Katalog, den sich Jeremy vor einiger Zeit ausgeliehen und ihr jetzt wieder auf den Schreibtisch gelegt haben musste. Es war der Katalog der Max-Klinger-Ausstellung 1976 in Bielefeld. Sie hatte sie nicht besucht, sie fuhr nicht gerne nach Westdeutschland, verließ nicht gerne Berlin. Den Katalog hatte sie kurz durchgeblättert und beschlossen, ihn irgendwann einmal, wenn sie Ruhe hatte, zu studieren. Nur hatte sich diese Ruhe bisher nie eingestellt. Die Schwangerschaft, das neue Kind…Jetzt blätterte sie die Seiten um, wusste, dass sie etwas finden würde, und hielt inne bei »Untergang«, einer Grafik aus der Reihe »Ein Leben«.
Ein letztes Luftholen, ein letztes Auftauchen. Nur Himmel und Wasser und Verzweiflung. Ja, so und nicht anders, so fühlte sie sich.
Den Katalog ließ sie an dieser Stelle offen liegen, griff sich das Telefon und wählte die Nummer, die sie aus dem Telefonbuch herausgesucht hatte. Als sich jemand am anderen Ende meldete, sagte sie ihren Namen. Es folgte eine kleine Pause, Verlegenheit wohl. Sie hatte zwar nicht viel erwartet, aber ein wenig enttäuscht war sie doch. Also sprach sie weiter und sagte: »Ich brauche Ihre Hilfe.« Und als immer noch keine Antwort kam: »Ich werde Sie dafür bezahlen.«
Jetzt kam das Gespräch beim Thema Geld in Gang. Aber schon nach wenigen Minuten musste Carla aufhören, denn Sally klopfte energisch an die Bibliothekstür, obwohl man ihr gesagt hatte, sie dürfe Carla nicht störten.
»Es ist wegen Felicitas«, sagte Sally. Carla zuckte bei dem schneidenden Klang ihrer hohen Stimme zusammen.
»Nennen Sie sie nicht Felicitas. Es ist nicht Felicitas.«
Sally schielte an Carla vorbei, dann sah sie ihr wieder in die Augen. »Ihr Kind. Das Kind. Etwas stimmt nicht.«
»Das weiß ich. Das sage ich schon seit zwei Monaten.«
Die kleine blonde Schottin kratzte sich ihren Scheitel. »Davon weiß ich nichts. Aber ich glaube, dass das Kind krank ist.«
Carla zuckte die Schultern. »Rufen Sie einen Arzt.« Damit drehte sie dem Kindermädchen den Rücken zu und starrte auf den Katalog.
Sally weigerte sich zu verschwinden. Sie blieb im Türrahmen stehen. »Nein, Mrs Arnim, Sie müssen es sich ansehen. Ich habe so etwas noch nie gesehen.«
Du hast überhaupt noch nicht besonders viel gesehen, abgesehen von deinem Hochlanddorf und ein paar Schafsherden, dachte Carla bitter und schalt sich sofort für diesen Gedanken. Sally hatte schließlich eine gute Ausbildung in Südengland erhalten und eine Weile in London gearbeitet. Aber Carla ärgerte sich über Sally, denn sie durchschaute diesen lächerlichen Versuch, sie dazu bringen zu wollen, eine emotionale Bindung zu dem fremden Kind aufzubauen. Sie antwortete: »Rufen Sie einen Arzt, der wird Ihnen schon sagen, was zu tun ist. Ich muss arbeiten, ich habe keine Zeit.«
Sally verschwand immer noch nicht. »Ich beobachte das Kind seit zwei Monaten. Es verändert sich.«
»Kinder wachsen. Natürlich verändern sie sich.« Carla
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