Das alte Kind
das Haus, das sich nicht mehr wie ihr Zuhause anfühlte, und wünschte sich, der Fahrer würde Gas geben und weiterfahren und ganz vergessen, dass sie auf dem Rücksitz saß.
»Dit wärn sechzehn Mark und janz jenau fuffzich Pfennije, die Dame«, sagte der Taxifahrer.
»Lassen Sie uns noch eine Runde fahren. Einfach so«, sagte Carla.
Er lachte laut. Nahm sie nicht ernst. Wer tat das schon dieser Tage. Sie gab ihm zwanzig Mark, »Behalten Sie den Rest«, und stieg aus. Als er längst in Richtung Podbielskiallee verschwunden war, stand sie noch immer vorm Haus, unwillig, den Schlüssel aus ihrer Handtasche zu nehmen oder auch nur einen Schritt auf das Grundstück zuzugehen.
Im Haus wartete das fremde Kind. Sie hob den Blick zum Fenster des Zimmers, das einmal für Felicitas eingerichtet worden war. Carla fragte sich, wie sie dieses fremde Kind nennen sollte. Alle nannten es Felicitas. Aber Carla hatte keinen Namen, kannte das Kind nicht, wollte es auch nicht kennen. Sie konnte es nicht Felicitas nennen. Das würde bedeuten, dass sie ihre Tochter aufgegeben hätte. Sie durfte ihm aber auch keinen anderen Namen geben, aus Angst, dadurch könnte sie eine Bindung zu dem Kind aufbauen, und käme das nicht einem Verrat an ihrer Felicitas gleich?
»Komm ins Haus«, sagte Frederik neben ihr. Sie erschrak und wich zurück, ließ sich dann aber von ihm am Arm nehmen.
Carla hörte im ersten Stock die Schritte von dem neuen Kindermädchen. Sally kam aus Schottland. Vorher hatte Junior ein amerikanisches Kindermädchen gehabt, aber sie war vor Felicitas’ Geburt gegangen, weil sie heiraten wollte. Sally trieb Junior nun seinen amerikanischen Akzent aus, um ihm die englische Aussprache beizubringen, wechselte manchmal aber auch in ihren schottischen Dialekt, was Junior zum Kreischen komisch fand. Junior und Sally lachten gerade, weil sie ihn wieder einen »wee lad«, einen kleinen Jungen, genannt hatte. Sie waren die Einzigen, die im Haus noch lachten.
»Im neuen Jahr werde ich wieder auftreten«, sagte Frederik, und sie nickte. »Schaffen wir das?«
Sie zog Mantel, Schal und Handschuhe aus und wandte sich zur Tür, die in die Bibliothek führte.
»Willst du nicht nach oben gehen? Guten Tag sagen?«, fragte Frederik.
Sie spürte, wie der letzte Rest Energie sie verließ.
»Wie denkst du über Felicitas?«, brachte sie nur hervor.
»Ich liebe sie«, sagte er verärgert, als hätte er es schon hundertmal gesagt. Vielleicht hatte er das auch. »Was ist, gehst du nach oben?«
»Ich muss arbeiten«, sagte sie, und es war nicht einmal gelogen. Sie hatte Ideen, Pläne. Sie musste telefonieren. Briefe schreiben. Auktionen vorbereiten. Und mehr noch als arbeiten würde sie ihre Tochter suchen.
»Niemand erwartet von dir, dass du schon wieder arbeitest«, sagte Frederik hilflos. »Jeremy kann das doch ohne Weiteres alles erledigen. Niemand erwartet, dass du dich um die Geschäfte kümmerst.«
»Ich schon«, sagte sie und ließ ihn stehen.
Ihre Eltern, Daniel und Rinah Mannheimer, hatten die Villa im Dol vor zwanzig Jahren erstanden und von Grund auf saniert. Das herrschaftliche Gebäude aus dem späten 19. Jahrhundert hatte fast sechshundert Quadratmeter Wohnfläche, und die Mannheimers wussten diesen Platz vollständig zu nutzen. Es gab Dienstbotenwohnungen, einen großzügigen, abgeschlossenen Gästebereich, eine riesige Bibliothek, einen Wintergarten, einen Salon für große Empfänge und Feste, eine riesige Küche, zwei Weinkeller, einen für Weißwein, einen für Rotwein. Jedes Schlafzimmer hatte ein eigenes Ankleidezimmer und natürlich ein Badezimmer.
Noch in den USA hatten sie einige private Kunstsammlungen aufgekauft und gewinnbringend verkauft, und nach ihrer Rückkehr nach Deutschland zunächst eine Galerie, dann ein Auktionshaus eröffnet. Kriegsgewinnler, hatte es geheißen. Typisch Juden, wissen immer, wie man die besten Geschäfte macht, wurde hinter vorgehaltener Hand gewispert. Doch die Zahl derjenigen, die die Mannheimers förderten und unterstützten, war groß gewesen. Viele europäische und nordamerikanische Künstler waren ihrer Einladung nach Berlin gefolgt, die Presse reagierte mit Lob, und die Auktionen sorgten für internationales Aufsehen.
Carla, ein Einzelkind, hatte alles geerbt. Auch den Kunstverstand ihres Vaters. Und den Geschäftssinn ihrer Mutter. Vor sechs Jahren waren die beiden gestorben. Erst ihre Mutter. Sie brach beim Schlittschuhlaufen auf dem Wannsee im Eis ein, die Kälte ließ
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