Das alte Kind
hatte dieser gesagt: »Viele Kinder haben solche Phasen, in denen sie sich andere Eltern wünschen und davon träumen, wie es wäre, bei Leuten aufzuwachsen, die genau so sind, wie man es sich wünscht. Kinder fühlen sich unverstanden, manchmal einsam und isoliert, weil sie nicht wissen, wie sie über ihre Probleme und Gefühle reden sollen. Besonders schlimm ist es in der Pubertät. Die Hormone spielen verrückt, manchmal melden sich bereits depressive Verstimmungen, Eltern nerven mit Verboten und Ermahnungen, man träumt sich in ein besseres Leben. Bei Ihnen kam noch der Tod Ihrer Mutter hinzu: Wenn es gar nicht meine Mutter war, die da gestorben ist, tut es auch nicht mehr so weh.«
Wie hätte er es auch wissen können. Wie hätte Fiona es wissen können. Roger war so liebevoll, so hingebungsvoll gewesen. Hatte ihr so vieles beigebracht und so viel Zeit mit ihr verbracht…
Wo war ihre Mutter da gewesen, fragte sie sich. Die Erinnerung an sie war über die Jahre verblasst, wie auch der Schmerz nachgelassen hatte. Und heute war fast nichts mehr von ihr übrig. Ein flüchtiges Gefühl. Aber sonst?
»Es muss doch Unterlagen geben«, sagte Fiona. »Was ist mit meiner Geburtsurkunde?«
Es klopfte an ihre Tür. Mòrag brachte ein Tablett mit einer Kanne Tee und drei Tassen. Sie stellte es zu dem Obst auf Fionas Schreibtisch. »Geht’s dir besser?«, fragte sie leise. Fiona bemerkte, wie Roger ihre Freundin irritiert ansah.
»Ja, danke«, sagte Fiona.
»Lässt du uns einen Moment allein?« Roger klang nicht unfreundlich, aber bestimmt, und Mòrags Gesichtsausdruck verwandelte sich von milder Anteilnahme in offenkundige Enttäuschung. »Klar. Entschuldigung.« Sie schnappte sich die dritte Tasse und verließ rasch das Zimmer.
»Ich frage mich jedes Mal, wie sich das wohl anfühlt, mit seinem eigenen Klon unter einem Dach zu wohnen«, murmelte Roger mit einem Seitenblick zur Tür, während er ihnen Tee einschenkte.
»Sie ist okay«, sagte Fiona ihm nicht zum ersten Mal.
»Aber warum tut sie das?«, fragte Roger kopfschüttelnd.
»Was ist mit meiner Geburtsurkunde?«, wechselte Fiona das Thema. »Darin bist du als mein Vater eingetragen. Geburtsort: Berlin. Mom hat mir übrigens erzählt, ich sei ein paar Tage zu früh gekommen, und ihr wart gerade zu Besuch in Berlin. Jetzt frage ich mich natürlich, wie ich diesen Schwachsinn glauben konnte.«
»Das fragst du dich jetzt nur, weil du weißt, dass es nicht stimmt.«
Sie sah Roger nicht an, starrte lieber in ihre Tasse, als fände sie darin alle Antworten. »Also?«
»Sie sagte mir, ihr wären alle möglichen Papiere bei dem Umzug von Berlin nach England verloren gegangen. Sie hat neue Papiere beantragt, unter anderem deine Geburtsurkunde. Sie sagte damals zu mir: ›Warum tragen wir dich nicht gleich als Vater ein, dann sparen wir uns den Umstand mit der Adoption.‹ Und ich sagte Ja.«
»Man könnte meinen, du warst ihr hörig«, sagte Fiona giftig. Sie verlor die Geduld mit Roger. »Sie hat dich verlassen, du hast dich jahrelang hängenlassen, bis sie zurückkam, und dann hast du dich einfach rumschubsen lassen. Sie schiebt dir ein fremdes Kind unter, und du bestehst nicht einmal darauf zu erfahren, von wem es ist! Was bist du eigentlich für ein Verlierer!«
»Ich habe sie geliebt, ich hatte Angst, sie würde gehen, wenn ich…«
»Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, wer mein Vater ist. Und du hättest dich dafür einsetzen müssen«, keifte sie ihn an.
Roger stand auf und begann, im Zimmer umherzugehen. »Ich wollte doch nur…«
»Ja eben. Du wolltest doch nur. Mom wollte doch nur. Aber ich war ein kleines Kind, verdammt! Wie wär’s denn wohl gewesen, wenn ihr euch Gedanken darüber gemacht hättet, was ich denn so wollen könnte? Und warum, bitte, hat Mom so wenig mit mir unternommen, wenn sie doch die ganze Zeit angeblich zu Hause geblieben ist, um sich nur um mich kümmern zu können? Wo war sie, als du mir Fahrradfahren beigebracht hast? Als wir schwimmen waren? Wo war Mom?«
Roger hob verzweifelt die Arme, ließ sie wieder sinken, schüttelte den Kopf und drehte sich von ihr weg.
Fiona versuchte, ruhiger zu atmen. »Da ist noch mehr, oder?«
»Nein, ich hab dir alles gesagt. Aber auf manche Dinge habe ich einfach keine Antwort. Ich weiß es nicht. Glaub mir doch.« Er klang verzweifelt. Und aufrichtig. Sie beschloss, ihn für heute in Ruhe zu lassen.
»Prima. Ganz toll. Nur, weil du vor dreißig Jahren schon so konfliktscheu warst wie
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