Das alte Kind
ihre Finger um die Bettdecke krampfte. Sie zwang ihre Hände, sich zu entspannen.
»Das habe ich deine Mutter auch gefragt. Sie wollte es mir nicht sagen.«
Fiona sah ihn mit großen Augen an. »Aber sie muss doch irgendwas gesagt haben. Wo war sie denn die ganze Zeit?«
»Im Ausland. In Berlin. Mehr weiß ich wirklich nicht.«
»So ein Quatsch!«, empörte sich Fiona. »Da steht jemand, den du mal geliebt hast, nach Jahren vor dir, und du…«
»Lass es mich erklären«, unterbrach er sie. »Deine Mutter, Victoria, sie war meine große Liebe. Sie hat mir das Herz gebrochen, als sie mich verließ. Und dann stand sie vor meiner Tür, und wir sahen uns wieder öfter, und als ich ihr sagte, dass ich sie immer noch liebte und jederzeit wieder heiraten würde, antwortete sie: ›Wenn du versprichst, mir keine Fragen zu stellen und Fiona anzunehmen wie eine eigene Tochter, dann bleibe ich.‹ Also habe ich es ihr versprochen und mich immer daran gehalten.«
»Das ist doch verrückt«, sagte Fiona leise und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Damals waren gerade Schulferien«, fuhr er fort. »Ich rief den Leiter der Schule an, an der ich damals arbeitete, und kündigte. Dann schrieb ich mehrere Schulen an, um mich zu bewerben. Ich schrieb an alte Freunde, ob sie mir helfen könnten. Die Gründe, warum ich etwas Neues suchte, verschleierte ich. Ich rechnete damit, dass es mindestens ein Jahr dauern würde, bis ich eine neue Stelle fände. Ich hatte Rücklagen, aber ich wusste nicht, wie lange sie reichen würden, wenn ich eine Familie durchzubringen hatte. Victoria wollte vorerst nicht wieder arbeiten, sie wollte sich nur um dich kümmern, und ich wollte ihr diese Möglichkeit geben. Und dann hatte ich einfach Glück: Ein früherer Kommilitone aus Durham war an einer Privatschule in Edinburgh. Als er hörte, dass ich eine Stelle suchte, hatte er sofort mit dem Schulleiter über mich gesprochen. In den Schulferien war eine Lehrerin überraschend verstorben, und sie suchten händeringend nach Ersatz. Ich nahm die Stelle sofort an. So kamen wir nach Edinburgh.« Er sah sie lange und nachdenklich an. »Ich hatte deiner Mutter versprochen, keine Fragen zu stellen«, wiederholte er.
»Und an mich hat dabei keiner gedacht?« Fiona setzte sich auf, wovon ihr schwindelig wurde.
»Wir haben nur an dich gedacht«, erwiderte Roger Hayward. »Du warst für mich das größte Geschenk meines Lebens, deine Mutter war meine große Liebe, für mich war das Leben mit einem Schlag perfekt. Jedenfalls für die nächsten elf Jahre.«
»Bis Mutter starb.«
»Bis sie diesen Unfall hatte, ja.«
Es hatte Jahre gedauert, bis er sich vom Tod ihrer Mutter erholt hatte, und auch wenn er sich seitdem hin und wieder mit anderen Frauen traf, führte er keine ernsthafte Beziehung mehr. Fiona hatte ihn einmal gefragt, warum er nicht wieder heiratete. Damals war ihre Mutter schon fast zehn Jahre tot gewesen. Er hatte gesagt: »Weil ich jede Frau nur enttäuschen würde. Ich könnte sie nie so lieben wie deine Mutter.« Für ihn lebte Victoria in Fiona fort, und wann immer sie fragte, ob sie ihrer Mutter ähnlich sei, nickte er und lächelte und sagte: »Du hast viel von ihrer Art in dir.« Äußerlich ähnelte sie ihr gar nicht, soweit sie das anhand alter Fotos ihrer Mutter beurteilen konnte. Kein Wunder also, dass sie als Kind schon gedacht hatte, sie wäre adoptiert oder man hätte sie gegen ein anderes Kind aus Versehen getauscht. Keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Mutter oder ihrem Vater.
»Du siehst einer Großtante zum Verwechseln ähnlich«, hatte ihre Mutter immer gesagt. Von dieser Großtante hatte Fiona nie auch nur ein Foto zu Gesicht bekommen. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich eine Zeit lang, wohl um den Tod besser verarbeiten zu können, eingeredet, ein Adoptivkind zu sein, und in ihrer Phantasie Lebensläufe ihrer echten Eltern zurechtgesponnen. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie eines Tages diesen perfekten Eltern gegenüberstehen würde. Sie würden sie in die Arme nehmen, und Fiona würde sich endlich heil und ganz fühlen. Wenn sie jetzt daran dachte, fragte sie sich, warum sie sich nie eine Antwort darauf überlegt hatte, warum ihre echten Eltern sie wohl weggegeben hätten.
Kinderspinnereien, hatte sie irgendwann gedacht, als diese Phase vorüber war. Und jetzt traf es sie wie ein Schlag auf den Kopf, dass sie damals gar nicht so falsch gelegen hatte. Als sie ihrem Therapeuten vor ein paar Jahren davon erzählt hatte,
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