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Das alte Kind

Das alte Kind

Titel: Das alte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoe Beck
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sie. Die Frau hatte nicht einmal »Guten Tag« gesagt und sich vorgestellt. Sie hatte Mòrag nur einen langen Blick zugeworfen und ihr zugenickt. Was waren das für neue Saiten? Mòrag plauderte ja auch manchmal mit Fionas Vater, wenn er zu Besuch war. Sie zerbrach sich den Kopf, wer diese Person sein mochte.
    Von ihrem Zimmer aus konnte sie sehen, wie die beiden die Forth Street vor bis zur Broughton Street gingen. Mòrag rannte in den Flur und legte die neue Sicherheitskette der Wohnungstür vor. Sie wollte in Ruhe Fionas Zimmer durchschnüffeln. Sollten die beiden wieder zurückkommen, würde sie sagen, sie hätte Angst alleine zu Hause, nach allem, was Fiona passiert war.
    In Fionas Zimmer sah sie zunächst nichts Ungewöhnliches. Die Frau hatte eine große Handtasche dabeigehabt, die hatte sie auch wieder mitgenommen. Schade. Mòrag liebte es, in Handtaschen zu wühlen. Danach wusste man alles über eine Frau.
    Gestern hatte Fiona schon einmal Besuch gehabt, ohne dass sie Mòrag etwas davon erzählt hätte. Sie hatte es nur bemerkt, weil Fionas Zimmer anders gerochen hatte, kaum wahrnehmbar, aber anders, so anders wie heute. Und weil Fiona gestern schon so seltsam normal gekleidet gewesen war. Also dieselbe Frau, dachte Mòrag. Gestern hatten sie sich gestritten, daraufhin war Mòrag für ein paar Stunden beleidigt abgezogen. War das Fionas Plan gewesen? Hatte sie sie absichtlich verärgert, um alleine zu sein?
    Sie wollte schon wieder Fionas Zimmer verlassen, als sie et was unter ihrem Kopfkissen hervorlugen sah. Sie hob das Kissen vorsichtig an und fand ein schwarzes Fotoalbum. Niemand hatte heute noch Fotoalben. Von außen sah es noch fast wie neu aus. Aber die Fotos waren Familienbilder, Schwarzweißaufnahmen aus den Fünfzigern und Sechzigern. Jemand hatte immer das genaue Datum der Aufnahme vermerkt. Eltern mit ihren drei Kindern. Zwei Mädchen, ein Junge. Unter den Bildern standen nie die Namen der Eltern, nur die der Kinder, anfangs noch in einer sehr kindlichen Handschrift, mit den Jahren wurde sie erwachsener. Die Kinder hießen: Victoria, Patricia, Philip. Victoria schien das ältere der beiden Mädchen zu sein. Sie entwickelte schon früh eine weibliche Figur, während die kleine Schwester zwar immer weiter wuchs und bald größer war als die ältere, aber weder Hüften noch Brust in nennenswertem Ausmaß bekam. Wie die Frau, die hier gewesen war. Genau so sah sie aus, nur jung. Und hieß Fionas Mutter nicht Victoria? Von einer Tante Patricia war nie die Rede gewesen. Von einem Onkel Philip auch nicht. Wobei sie Letzteres noch verstehen könnte. Wer erzählte schon gerne von dem behinderten Onkel. Down-Syndrom, so welche schob man ab und sprach nicht mehr über sie. Aber warum nie ein Wort über die Tante? Nicht einmal jetzt, wo sie zu Besuch gekommen war? Fiona fing an, Geheimnisse zu haben. Oder nein: Sie hatte die ganze Zeit Geheimnisse gehabt, und Mòrag hatte es nicht gemerkt.
    Dabei hatte sie gedacht, sie wüsste alles über Fiona.
    Sie legte das Fotoalbum wieder genau so hin, wie sie es vorgefunden hatte. Enttäuscht und wütend ließ sie sich in ihrem eigenen Zimmer aufs Bett fallen und versuchte zu weinen. Ihre Augen brannten, aber es kamen keine Tränen. Sie blieb liegen, bis sie einschlief, und wurde erst wieder wach, als Fiona und die Frau zurückkamen. Fiona klopfte wie wild gegen die Tür, weil Mòrag die Kette vorgelegt hatte. Schnell sprang sie auf, machte ihr Beste-Freundin-Gesicht und rannte in den Flur, um sie reinzulassen.
    »Hallo, entschuldige, ich hatte…« Aber sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Fiona stürmte an ihr vorbei in ihr Zimmer. Die große Frau folgte ihr. Sie nickte Mòrag wieder zu, sagte diesmal sogar etwas. Sie sagte: »Entschuldigen Sie uns bitte.« Was bildete sie sich ein? Sie war hier Gast, führte sich aber auf, als sei Mòrag in Wahrheit der Eindringling. Mòrag kochte vor Wut. Aber sie blieb äußerlich ruhig und sagte: »Natürlich. Wenn ich etwas für Sie tun kann…Soll ich vielleicht Ihren Mantel aufhängen? Er ist ja ganz nass vom Regen.«
    Die Frau bedankte sich, zog den Mantel aus und überließ ihn Mórag, die ihn mit großer Sorgfalt auf einen Bügel hängte. Dann tat sie so, als ginge sie in die Küche. Wartete in Wirklichkeit nur, bis die Tür zu Fionas Zimmer geschlossen wurde, um den Mantel zu durchsuchen. Nach ein paar geübten Handgriffen hatte sie etwas gefunden: eine hastige Notiz, auf ein Post-it gekritzelt: »Fiona fragen, ob sie

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