Das alte Kind
zu schicken, um ein Ultraschallbild von dem Baby zu machen. Diese Frau war zeitgleich mit mir schwanger. Sie hat auch nicht gewusst, was auf sie zukam. Sie hat erst nach der Geburt festgestellt, dass sie ein krankes Kind hat.«
»Moment«, unterbrach Ella. »Man hätte auf einem Ultraschallbild sehen können, dass Fliss Progerie hat?«
Carla zuckte die Schultern. »Wer weiß?«
»Nein«, entschied Ella. »Ich habe mich mittlerweile auch schlau gemacht. Jedenfalls so schlau wie möglich. Alles, was ich finden konnte, war, dass die ersten Anzeichen für Progerie frühestens nach sechs Monaten zu sehen sind.«
Carla stöhnte laut auf. »Aber warum sonst sollte eine Mutter ihr Kind austauschen?«
»Das wissen wir doch gar nicht sicher, dass eine Mutter absichtlich…«
»Aber wie soll es sonst passiert sein? Je länger ich drüber nachdenke, desto logischer erscheint es mir: Diese Frau muss gewusst haben, dass Fliss krank ist. Sie hatte Zugang zur Säuglingsstation und wusste, wann ein gleichaltriges Kind dort lag. Dann hat sie die Kinder vertauscht.«
»Das heißt«, folgerte Ella, »wir müssen nur herausfinden, welche Krankenschwester oder Ärztin…«
»…oder Arztgattin oder Schwester oder Schwägerin…«
»…ein Kind in Fliss’ Alter hat.«
Carla spürte die Tränen in ihren Augen. Wie einfach nun alles schien! »Danke«, sagte sie leise zu Ella. Dann konnte sie die Tränen nicht länger kontrollieren. Es war so offensichtlich, was mit Felicitas passiert war, so eindeutig, jeder hätte es erkennen können. Ihre Tochter war bei einer anderen Frau in Sicherheit. Sie war nicht gestorben und gegen ein einsames Waisenkind ausgetauscht worden, wie sie in ihren dunkelsten Stunden befürchtet hatte. Sie lebte. Es würde ein Einfaches sein, diese Frau ausfindig zu machen, da sie eine direkte Verbindung zum Krankenhaus haben musste. Ella würde ihr helfen, und vielleicht konnte sie schon in wenigen Tagen Felicitas in ihre Arme schließen. Alle Welt würde sich bei ihr entschuldigen müssen. Alle, auch Frederik. Dieser Hund.
»Wann…«, begann Carla.
»Ich fahre gleich morgen nach Berlin, wenn du willst«, sagte Ella.
Carla umarmte ihre Freundin, ließ sie nicht mehr los und weinte, bis keine Tränen mehr kamen.
9.
Ganz ohne Vorwarnung hieß es neuerdings: »Lass mich doch mal alleine« und »Darüber will ich jetzt nicht sprechen«. Das war neu. Mòrag war erst sprachlos gewesen. Und dann immer wütender geworden. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Immerhin hatte sie jahrelang darauf hingearbeitet, mit Fiona sozusagen eins zu werden. Sie hatten einen identischen Freundeskreis. Sie gingen zu denselben Partys und aßen in denselben Restaurants. Sie hatten auch oft genug dieselben Männer, auch wenn Fiona davon nicht immer etwas wusste. Wozu auch?
Meistens klappte es, die Typen abzuschleppen, die Fiona hatte fallenlassen. Meistens, aber nicht immer. Dieser Jan aus Berlin zum Beispiel, der hatte sich gar nicht bitten lassen. Komischer Typ, wirklich. Sie hatte schon Angst gehabt, er würde etwas über sie zu Fiona sagen, als sie ihn auf der Ausstellungseröffnung von Astrid Roeken gesehen hatte. Aber offenbar hatte er nichts gesagt. Gut so.
Was aber jetzt hinter verschlossenen Türen geschah, wurmte sie sehr. Sie versuchte zu lauschen, aber Fiona und diese Frau sprachen sehr leise. Außerdem hatte Fiona wie üblich Musik laufen, einer der Lautsprecher stand direkt neben der Tür. So hörte Mòrag nur Tom Smith von den Editors singen: »People are fragile things you should know by now…Be careful what you put them through…« Fragil vielleicht, aber nicht fragil genug, jedenfalls nicht Fiona. Fiona war zäh, das wusste Mòrag jetzt. Sonst hätte sie das Blutbad vom letzten Wochenende nicht überlebt. Und noch so einige andere Dinge auch nicht. Mòrag war ein bisschen beeindruckt von Fionas Zähigkeit. Wieder etwas, was sie sich von ihr abschauen konnte.
Sollte sie vielleicht einen Stromausfall vortäuschen? Einen Kurzschluss? Dann könnte die Musik eine Weile nicht mehr laufen, und sie würde zuhören können. Sie bastelte schon in der Küche am Toaster herum, da verließen die beiden gemeinsam Fionas Zimmer. Die große, dünne Frau hatte einen Arm um Fionas Schultern gelegt, und Fiona – gekleidet wie ein braves Schulmädchen, das am Wochenende seine Großmutter besuchte – wandte das Gesicht von Mòrag ab.
Sie sagte, kaum hörbar: »Wir sind mal draußen für eine Weile.«
Dann verschwanden
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