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Das alte Kind

Das alte Kind

Titel: Das alte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoe Beck
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der anderen bedienen durfte. Ging etwas kaputt, kam man dafür auf. Der grün-goldene Mantel hing nun schon eine ganze Weile in Mòrags Schrank. Er war so extravagant, dass man sofort Fiona in ihm vermutete. Wie oft hatte man ihr auf die Schulter getippt und gerufen: »Fiona! Lass dich umarmen!« Dann hatte sie sich umgedreht und gelacht, und der oder die andere hatte mitgelacht und sie trotzdem umarmt, obwohl sie nicht Fiona war. Deshalb mochte sie diesen Mantel am allerliebsten. Und würde ihn nun auch anziehen.
    Es war noch eine Stunde Zeit, aber es konnte nicht schaden, früher dort zu sein und sich alles ganz genau anzusehen. Außerdem konnte es ja auch sein, dass sie diesen Dr. Lloyd nicht sofort fand, und sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen.
    Sie überquerte die Ampel, um auf die North Bridge zu gelangen, als sie das Gefühl hatte, jemand würde ihr folgen. Verwirrt blieb sie stehen, sah sich um, sah aber nur ein paar Touristen, eine Gruppe junger Mädchen, ein Liebespaar. Ihr schlechtes Gewissen würde ihr doch keinen Streich spielen? Bekam sie etwa Skrupel, weil sie diesmal vielleicht zu weit ging, und glaubte deshalb, Fiona oder ihre Tante würden ihr folgen? Mòrag schüttelte ihr Haar zurück, drückte den Rücken durch und ging weiter.
    Diese verdammten Stiefel. Sie hatte sie lange nicht mehr getragen, weil sie darin immer sofort Blasen an den Fersen bekam. Sie sah auf ihr Handy: noch eine Stunde Zeit. Sie könnte also zurückgehen, andere Schuhe anziehen und wäre immer noch pünktlich. Aber wollte sie riskieren, von Fiona gehört zu werden? Nein, sie hatte keine Lust, sich jetzt noch eine dumme Lüge auszudenken. Sie würde einfach weitergehen.
    Auf der North Bridge geriet sie in eine Gruppe angetrunkener Männer, die auf den Bus warteten. Sie wappnete sich gegen die zu erwartenden anzüglichen Kommentare, versuchte, sich von keinem anrempeln zu lassen, und drückte sich schließlich so nah wie möglich an der Mauer entlang, um ihnen auszuweichen. Immer dasselbe, dachte sie, genoss es aber zugleich, für ein paar Sekunden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Wer weiß, vielleicht gingen sie nach Hause und dachten noch lange an sie, weil sie sie so mysteriös und zugleich begehrenswert fanden, dass sie von ihr träumten.
    So wie viele Männer von Fiona träumten.
    Sie war fast am Gebäude des Scotsman angelangt, als jemand die Hand auf ihre Schulter legte.
    »Fiona?«, fragte eine männliche Stimme.
    Mòrag lächelte. Der Mantel, ihre Haare, ihr Styling, mittlerweile auch ihr Gang, ihre Haltung. Die Täuschung war perfekt. War es überhaupt noch eine Täuschung? Sie drehte sich um und sah in ein Gesicht, das ihr vollkommen unbekannt war.
    »Hallo«, sagte sie und lächelte immer noch.
    Der Mann bemerkte die Verwechslung nicht, und sie würde ihn auch nicht aufklären. Offenbar kein abgelegter Liebhaber. Eher ein Anwärter.
    »Kann ich dich kurz sprechen? Wollen wir dort entlanggehen, da ist weniger los.« Er legte den Arm um ihre Schultern und schob sie sanft zur Scotsman-Treppe, die am Gebäude entlang hinunter zur Market Street führte. Sie war von außen nicht einsehbar, vielleicht hatte er ein romantisches Abenteuer im Sinn. Mòrag widersetzte sich nicht. Sie lächelte immer noch.
    Dann stürzte sie die ersten Stufen herunter. Auf dem Treppenabsatz blieb sie liegen. Sie stöhnte auf vor Schmerz, verstand nicht, was geschehen war. War sie umgeknickt? Diese Schuhe, diese verdammten Stiefel. Sie versuchte aufzustehen. Der Mann würde ihr helfen. Sie sah ihn an, wie er neben ihr stand, streckte ihm eine Hand entgegen, sah in sein Gesicht und wollte gerade etwas sagen, als er ihr in den Rücken trat. So lange, bis sie die nächsten Stufen herunterrollte. Wieder kam sie erst auf dem Treppenabsatz zum Liegen. Es roch nach Urin und Bier.
    »Hey!«, schrie sie, als sie den Mann über sich sah. »Was soll das?« Sie versuchte, etwas in seinem Gesicht zu erkennen, das ihr erklärte, was hier geschah. Aber sein Gesicht lag in der Dunkelheit. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Todesangst.
    Er kam langsam die Stufen herunter, beugte sich über sie, packte sie am Arm und riss sie hoch, damit sie sich hinstellte. Mòrag schrie auf. Ihre Schulter krachte, als sei sie ausgerenkt worden.
    »Also dann, Fiona«, sagte der Mann zu ihr. Sie drehte ihren Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen, aber da stieß er sie schon die nächste Treppe hinunter. Zum Glück waren es immer nur wenige Stufen, nicht genug,

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